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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Erfindung bin?«
    »Nein«, sagte Ariel. »Für Sie gibt es einen Prototyp. Graf Tolstoi, der große Schriftsteller und Denker aus Jasnaja Poljana, der sich am Ende seines Lebens auf den Weg nach Optina Pustyn gemacht hat. Wo er im Übrigen nie angekommen ist.«
    »Das heißt, ich bin Graf Tolstoi?«
    »Ich fürchte, nicht ganz.«
    »Und wer bin ich in Wirklichkeit?«
    »In Wirklichkeit?«, schmunzelte Ariel. »Ich bin nicht sicher, ob ich diese Frage eindeutig beantworten kann, aber ich habe eine … sagen wir, eine Hypothese.«
    »Nämlich welche?«, fragte T.
    »Als mein Großvater mir die Schriftstellerei ausreden wollte, erzählte er mir, was mit den Schriftstellern nach dem Tod passiert. Wohin ihre Seelen gehen.«
    »Wohin denn?«
    »Wie gesagt, mein Großvater hielt eine nicht von Gott, sondern von irgendwem anders ausgehende Schöpfung neuer Wesen für die schlimmste aller Sünden. Weil jeder unvollkommene Schöpfungsakt dem Allerhöchsten Qualen bereitet. Deshalb werden die sogenannten irdischen Schöpfer dadurch bestraft, dass ihre Seelen später die Helden spielen müssen, die andere Demiurgen erfunden haben.«
    »Wollen Sie damit sagen …«
    »Ich will es nicht behaupten. Aber die Möglichkeit besteht. Stellen Sie sich vor: Einst lebte in Russland der große Schriftsteller Graf Tolstoi, der kraft seines Willens einen gewaltigen Reigen von Schatten in Gang gesetzt hat. Vielleicht war er der Meinung, er habe sie selbst erfunden, aber in Wirklichkeit waren es die Seelen irgendwelcher Schreiberlinge, die dadurch, dass sie an der Schlacht von Borodino teilnehmen oder sich vor den Zug werfen, 12 für ihre Sünden bezahlen – für Odysseus, Hamlet, Madame Bovary und Julien Sorel. Nach seinem Tod musste auch Graf Tolstoi eine solche Rolle spielen. Jetzt ist er eben ein Reiter in einer blauen Uniform und auf dem Weg nach Optina Pustyn. Diese Welt, in der der Graf sich mit der Waffe in der Hand zu einem unbekannten Ziel durchschlägt, hat Ariel Edmundowitsch Brahman erdacht – den nach seinem Tod ein ähnliches Schicksal erwartet. Deshalb kann man nicht behaupten, dass Ariel Edmundowitsch Brahman den Grafen T. tatsächlich erschaffen hat, obwohl er auch sein Schöpfer ist. Wie Sie sehen, ist das gar kein Widerspruch.«
    »Alles um mich herum ist Ihr Werk? Der Zigeunerbaron, die Fürstin Tarakanowa und dieser verrückte Soldat an der Kirche?«
    »Tatsächlich ist das Ganze ein wenig komplizierter, aber der Einfachheit halber können Sie davon ausgehen, dass dem so ist«, sagte Ariel. »Die Menschen und Dinge in Ihrer Welt erscheinen nur für die Zeit, solange Sie sie sehen. Und für alles, was Sie sehen, bin ich verantwortlich.«
    »Auf welche Weise erscheinen denn Sie vor mir?«
    »Nach der Methode meines verstorbenen Großvaters. Ich nehme ein Blatt aus einem Manuskript und schreibe hebräische Buchstaben an den Rand, dann verbrenne ich das Blatt, löse die Asche in Wasser auf und trinke es. Und für eine gewisse Zeit, Graf, werden wir für uns gegenseitig real …«
    In Ariels Tasche ertönte ein melodisches Klingeln.
    »Sie verbrennen ein Blatt aus einem Manuskript?«, fragte T. nach. »Gestatten Sie, aus welchem Manuskript genau? Haben Sie etwa ein Manuskript mit einem magischen Einfluss auf mein Schicksal? Irgendeine Beschreibung von mir?«
    »Nächstes Mal«, sagte Ariel. »Jetzt muss ich Sie verlassen, verzeihen Sie. Sie können hier im Zelt übernachten und morgen früh … Etwa hundert Meter weiter ist die Straße. Dort finden Sie einen Wagen, der Sie mitnimmt. Hier in der Nähe ist eine Kreisstadt.«
    »Kowrow?«
    »Von mir aus. Wir können sie nachher, wenn nötig, auch umbenennen. Ruhen Sie sich einen Tag aus. Amüsieren Sie sich, so gut es geht. Und denken Sie darüber nach, was Sie gehört haben.«
    T. bemerkte, dass durch Ariels Ellbogen der Teppich am Boden zu sehen war. Dann wurde Ariels Fuß durchsichtig.
    »Begegnen wir uns wieder?«
    Ariel lächelte wohlwollend.
    »Aber sicher. Schließlich habe ich das Allerwichtigste noch nicht erzählt. Also morgen oder übermorgen. Im Hotel Dworjanskaja, das ist der einzige anständige Ort in der Stadt. Ich finde Sie dort schon.«

VIII
    Der Wagen hielt vor einem zweistöckigen steinernen Haus mit dem Aushängeschild Hotel Dworjanskaja .
    T. gab dem Fuhrmann eine Münze, kletterte vom Wagen, schüttelte das Heu von seinen blauen Ärmeln ab und reckte und streckte sich.
    »Euer Wohlgeboren, Herr Oberst!«, rief der Pförtner von der Vortreppe her.

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