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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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»Belieben Sie, Station zu machen?«
    »Ja«, erwiderte T., ohne sich die Mühe zu machen herauszufinden, was genau der Pförtner meinte. »Das beste Zimmer.«
    »Wird sofort erledigt, Euer Wohlgeboren! Wir richten das Gouverneurszimmer her!«
    »Und dann«, sagte T. leise und ein wenig verlegen, »bring mir noch etwas, na, etwas Wodka, mein Bester.«
    »Aber selbstverständlich, Euer Wohlgeboren! Kommt sofort!«
    In einer Viertelstunde war das Zimmer bereit. Als T. hereinkam, standen auf dem Tisch schon eine beschlagene Karaffe und ein Silbertablett mit einem Imbiss bereit.
    Vom Hausdiener erfuhr T., das Zimmer heiße deshalb Gouverneurszimmer, weil darin einst ein Gouverneur, der auf Allerhöchsten Aufruf hin nach Petersburg unterwegs war, versucht hatte, sich aufzuhängen.
    Das Zimmer war für ländliche Vorstellungen geradezu luxuriös, wenn auch ein wenig düster: Es wurde von einem riesigen Kamin geziert, der einem deutschen Schloss angemessener gewesen wäre als einem Provinzhotel, und über dem Kamin hing ein riesiges und offenbar tatsächlich altes (oder vielleicht auch nur vom Ruß nachgedunkeltes) Porträt von Zar Paul.
    Der stupsnasige, ungerührte Imperator sah aus wie seine eigene Leiche, er war mit roter und weißer Schminke eingerieben und seine kalten, verächtlichen Augen schienen auf die geschlossenen Lider aufgemalt. Die Schläfe, wo ihn später die Tabakdose des Mörders traf, war mit einer albern verdrehten Locke seiner Perücke überdeckt – als hätte der Künstler durch das Galagewand des Imperators hindurch geheimnisvolle Schicksalszeichen erkannt.
    In der Ecke stand eine Uhr von ungewöhnlicher Form – eine komplette Ritterrüstung mit verglastem Bauch, in dem sich Zahnräder drehten und kleine Stäbe hin- und herbewegten und gleichsam die zuverlässige, gleichmäßige und rhythmische Verdauung symbolisierten. In dem offenen Helm befand sich anstelle eines Gesichts ein kleines weißes Zifferblatt mit Uhrzeigern.
    T. goss sich Wodka ein, trank ein Glas, aß Blini mit Kaviar und setzte sich in den mit Pfauen bestickten Sessel neben dem Kamingitter.
    »Warum wohl Zar Paul hier hängt?«, überlegte er, während er das Zimmer betrachtete. »Er sieht aus wie ein rot geschminkter und in Alkohol konservierter Säugling aus der Kunstkammer 13 … Ich glaube, heute betrinke ich mich wie noch nie. Das ist allerdings nicht weiter schwierig, ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal betrunken war …«
    T. goss sich noch einen Wodka ein.
    »Ist wirklich die ganze Welt das, was Ariel behauptet? Der kleine Zeitschriftentisch hier. Die Karaffe, in der sich das Fenster spiegelt. Das geschliffene Glas, das aussieht wie ein lichtbrechendes Prisma. Woher kommt dieses Glas eigentlich? Es erscheint, weil Ariel es beschreibt. Aber wer sieht es dann? Wer bin ich? Bin ich vielleicht auch so ein Glas, nur eines, das sprechen kann?«
    Es klopfte an der Tür.
    »Euer Exzellenz«, erklang eine Stimme aus dem Korridor. »Soll ich Ihnen vielleicht Papier und Tinte bringen?«
    »Nein«, rief T. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Was belieben Sie zu bestellen?«, fragte die Stimme nach einer peinlichen Pause.
    »Bring mir noch Blini. Und überhaupt, trag das Essen auf.«
    »Zu Befehl.«
    »Genau«, dachte T., wobei er den Finger hob und dem gemalten Imperator drohte. »Ganz genau. Papier und Tinte. Dieser Schlaumeier hat nicht umsonst danach gefragt. Ob er mich für diesen Schriftsteller hält, von dem Ariel gesprochen hat? Wohl kaum. Er wollte mir wahrscheinlich nur die Wohltaten der Zivilisation anbieten. Knopf hat doch im Zug gar nichts von Literatur gesagt, und er ist bestens im Bilde über mich. Ich müsste irgendwie mit diesem Knopf reden, ihn ausfragen. Aber das ist gar nicht so einfach, schließlich fängt er jedes Mal an, mit seinem Revolver herumzuballern …«
    Die Ritteruhr mit dem durchsichtigen Bauch schlug zweimal.
    »Zugegeben, die Welt, die dieser kabbalistische Dämon sich ausgedacht hat, sieht wirklich überzeugend aus. Aber nach dem Essen muss ich einen Spaziergang machen und nachsehen, ob sie nicht hundert Schritte abseits vom Weg schon wieder aufhört. Da bin ich mal gespannt. Zuerst wird gegessen und getrunken, und dann wollen wir alles ganz genau inspizieren …«
    Der erste Teil dieses Vorhabens wurde unverzüglich in die Tat umgesetzt. Bald darauf stieg T. schon die Vortreppe des Hotels hinunter.
    »Na schön«, murmelte er mit geballten Fäusten und einem drohenden Grinsen, »dann wollen wir

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