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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Mumie. Es waren nur noch Fragmente erhalten, aber das wenige, was die Ägyptologen entziffern konnten, reichte aus, dass der Vatikan intervenierte. Der Obelisk wurde beiseitegeschafft und die Entdeckung blieb der Menschheit auf ewig verborgen …«
    »Und das war der Obelisk von Echnaton?«
    »Ganz genau. Die Säule des abtrünnigen Pharao, der die Hauptstadt in die Wüste verlegt und als Erster versucht hatte, die Vielgötterei abzuschaffen. Die Priester zerschlugen den Obelisken, nachdem sie die alte Ordnung wiederhergestellt hatten, was nach Echnatons Tod sehr schnell geschah. Und die heimlichen Anhänger des Pharaos begruben die Fragmente.«
    »Was stand auf dem Obelisken?«
    »Die Bedeutung der Inschrift war ungeheuerlich. Aus dem, was die Archäologen entziffern konnten, ging hervor, dass Echnaton anders war als die anderen irdischen Herrscher, die sich vor einer bestimmten Gottheit verneigten, weil sie von ihr Unterstützung erhofften. Echnaton hingegen war ein Fanatiker, das heißt, er träumte vor allem davon, seinem Gott einfach so zu Diensten zu sein. Und der Gott gab ihm die Möglichkeit.«
    »Welcher Gott?«, fragte T.
    »Dieser Gott war ursprünglich der Hermaphrodit mit dem Katzenkopf. Doch es galt als böses Omen, ein Bild von ihm zu sehen, und dieser Aberglaube war so stark, dass er auf den Fresken oder Basreliefs nie in seiner wahren Gestalt abgebildet wurde. Stattdessen wurde er als Scheibe mit vielen Armen dargestellt – das bedeutete, dass dieser Gott allmächtig und blendend schön war und nur der strahlende Glanz der Sonnenkorona eine Vorstellung von ihm geben konnte. Später erstreckte sich der Aberglaube auf jegliche Nennung seines Namens, weshalb er in Inschriften keine Erwähnung mehr fand und sämtliche schon existierenden Inschriften zerstört wurden. Man verehrte ihn, ohne ihn direkt beim Namen zu nennen – ebenso wie man die Pharaonen nicht mit ihrem richtigen Namen, sondern mit verschiedenen magischen Titeln nannte.
    Um also den verbotenen Namen nicht aussprechen zu müssen, wurde dieser Gott als ›unsere Sonne‹ bezeichnet und in Form der Sonnenscheibe abgebildet, denn der Vergleich mit der Sonne war für einen Menschen der Antike die höchste Form des Lobes. In Tat und Wahrheit aber war der Hermaphrodit mit dem Katzenkopf der unheimlichste unter den Göttern …«
    »Woher wissen Sie das alles?«, fragte T. und musterte Knopf misstrauisch.
    »Von denen, die mich hinter Ihnen hergeschickt haben«, erwiderte Knopf. »Darf ich fortfahren?«
    T. nickte.
    »Zum Zeichen seiner Ergebenheit schwor Echnaton, dem Hermaphroditen eine gewaltige Anzahl Seelen als Opfer zu bringen, die größte Zahl, die man jemals mit ägyptischen Schriftzeichen geschrieben hatte. Man hat mir die Zahl genannt, aber ich erinnere mich nicht mehr – ich weiß nur noch, es war eine ungerade Zahl …«
    »Aber wie konnte man ihm Seelen opfern?«, fragte T.
    »Das war ebenso unglaublich wie entsetzlich. Damit ihnen so viele Seelen wie möglich ins Netz gingen, entschlossen sich Echnatons Priester, die Doktrin des Monotheismus zu verkünden. Ihr Plan lief darauf hinaus, den Hermaphroditen mit dem Katzenkopf zum einzigen Gott und alle anderen Götter zu Dämonen zu erklären. Aber da man das wahre Bild des Hermaphroditen verbergen musste, beschloss man, die Menschen in eine Falle zu locken, wobei man einen unsichtbaren Götzen immaterieller Natur als Köder benutzte … Ich sage Ihnen ganz ehrlich, Graf, dass ich den Sinn dieser Worte selbst nicht verstehe.«
    »Das ist doch ganz einfach«, schmunzelte T.
    »Einfach?«, fragte Knopf stirnrunzelnd.
    »Natürlich. Was glauben Sie, was ein Götze ist?«
    »Eine Statue, die die Naturvölker mit Fett einrieben, damit sie ihnen Glück im Krieg oder bei der Jagd brachte …«
    »Stimmt, aber warum muss es unbedingt eine Statue sein? Ein Götze kann alles Mögliche sein. Man kann den Menschen sagen: Eurer Gott ist dieser angemalte Baumstumpf hier. Einen solchen Götzen zu schaffen ist nicht schwer, aber man kann ihn auch leicht wieder abschaffen – so ein Gott kann mit der Zeit leicht verschwinden. Wenn man aber ein abstraktes Gedankengebilde zum Götzen erklärt, etwa die Konzeption eines körperlosen Gottes als Individuum, dann gibt es keine Möglichkeit, diesen Götzen zu zerstören, selbst wenn man eine ganze Armee einsetzt. Es gibt nur ein Mittel, ihn loszuwerden – man muss aufhören, an ihn zu denken. Aber für die meisten Menschen ist das vollkommen

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