Tolstois Albtraum - Roman
unrealistisch.«
»Möglich«, sagte Knopf. »Möglich … Sie sind außergewöhnlich klug, Graf.«
»Was also machten Echnatons Priester?«
»Sie schickten einen jungen Priester zu den alten Hebräern, einem wilden Nomadenvolk, dessen scharfe praktische Auffassungsgabe mit einer rührenden Naivität in spirituellen Fragen einherging. Die Aufgabe des Priesters bestand nun darin, dem jungfräulich reinen Geist der Hebräer den immateriellen Götzen des Hermaphroditen einzupflanzen und ihnen die Verneigung vor allen anderen Göttern zu verbieten. Der Priester hieß Moses. Es wurde prophezeit, dass die Lehre des Monotheismus sich durch die alten Hebräer in der ganzen Welt verbreiten und viele Ableger bilden werde – und alle mit seiner Hilfe gefangenen Seelen würden in einen von ägyptischen Magiern geschaffenen schwarzen See der Finsternis eingehen und vom Hermaphroditen verschlungen werden …«
Während Knopf redete, stieg wie zur Bekräftigung seiner entsetzlichen Worte ein schmerzerfüllter Schrei über dem Feld auf, der anschwoll und bald nicht mehr zu überhören war. T. hob schließlich den Blick.
Schreiend und mit ausgestreckten Armen, das blutüberströmte Gesicht in den niedrigen, grauen Himmel erhoben, kam der blinde Zigeuner Lojko über das Feld gerannt. Auch Knopf richtete nun seinen Blick auf den Unglücklichen. Der Zigeuner stürmte heulend an der Bank vorbei und lief weiter ins Feld hinaus; kurz darauf war seine Stimme in der Ferne verklungen.
»Na schön«, sagte T. »Angenommen, Sie sagen die Wahrheit. Aber was hat das mit mir zu tun?«
»Er wurde prophezeit«, fuhr Knopf fort, »dass der Weltzyklus sich vollendet, wenn dem Hermaphroditen ein ›Großer Löwe‹ zum Opfer gebracht wird. In der Antike glaubten die Eingeweihten, dieses Opfer sei bereits gebracht und der Große Löwe sei der Heerführer Ari ben Galevi mit dem Beinamen ›der Löwe von Sidon‹ gewesen, den die Zeitgenossen nach seinem erfolgreichen Überfall auf die syrischen Weinberge ›Ari den Allmächtigen‹ nannten. Das erklärt auch die ständige Erwartung des Weltendes, die vielen Überlieferungen jener Jahre gemeinsam ist. Die Eingeweihten unserer Tage hingegen haben Zeichen und Hinweise verglichen und meinen, dass in Wahrheit Sie der ›Große Löwe‹ sind. Schließlich ist Lew, der Löwe, Ihr richtiger Name. Verstehen Sie jetzt, warum Sie nach Optina Pustyn gehen?«
»Nicht so ganz.«
»Die Diener des Hermaphroditen mit dem Katzenkopf müssen ihrem entsetzlichen Herrn Ihre Seele als Opfer darbringen, um den Schöpfungszyklus zu vollenden.«
»Aber wenn sich der Schöpfungszyklus vollendet, werden diese Sektierer, so muss man doch annehmen, zusammen mit allem Übrigen untergehen?«
»Sie glauben, für sie werde sich ein Korridor auftun, der in die Unsterblichkeit führt.«
»Und was ist Optina Pustyn?«
»Das weiß keiner so genau. In Russland gibt es mehrere Klöster und Einsiedeleien, die so heißen, aber sie sind nicht von Interesse, man hat sie schon oft gründlich inspiziert. Allem Anschein nach sind Sie auf dem Weg zu einem solchen Ort, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was Sie tatsächlich erwartet. In der Terminologie der Sektierer aber ist ›Optina Pustyn‹ eine Art alchimistischer Geheimausdruck, so wie die Wörter ›Blei‹ oder ›Quecksilber‹, die auch eine andere, verborgene Bedeutung haben.«
»Und wofür steht dieser Ausdruck genau?«
Knopf wurde ernst.
»Wir vermuten«, sagte er, »dass es jeder beliebige Ort sein könnte, an dem der Große Löwe dem Hermaphroditen mit dem Katzenkopf geopfert wird. Der Plan der Sektierer besteht darin, Sie auf eine sinnlose Reise zu schicken und Sie unterwegs zu opfern.«
»Aber warum schicken sie mich ausgerechnet nach Optina Pustyn? Sie hätten mich doch einfach nach Sarajsk oder sonst wohin schicken und mir dort in einem Wäldchen auflauern können, und fertig.«
»Sehen Sie, Graf, diese uralten Rituale verlangen ein bestimmtes Maß an Theatralik, eine Art freudige Teilnahme des Opfers – wenn auch nur der Form halber.«
T. fing an zu lachen.
»Dann verstehe ich aber die Logik Ihrer Handlungen nicht, Knopf. Warum versuchen Sie, mich zu vernichten, wenn mich dort, wohin ich unterwegs bin, ohnehin der Tod erwartet? Lassen Sie doch andere die schmutzige Arbeit verrichten.«
»Eine vernünftige Überlegung, Graf«, erwiderte Knopf. »Wenn es nach mir persönlich ginge, würde ich das auch tun. Aber die Anordnungen bei der Geheimpolizei treffe
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