Tolstois Albtraum - Roman
Beispiel – Zombies die Schuhe abzunehmen war widerlich. Aber die Sache war lehrreich. Und vor allem witzig.
Dostojewski stellte das Jagdgewehr an die Wand – so dass er es zur Hand hatte – und versuchte, zu seiner Lektüre zurückzukehren. Aber es wurde schon dunkel und er wollte die Augen nicht anstrengen – im Schützengraben durfte er kein Licht machen. Dostojewski legte sich auf die Seite, klappte das Buch zu und schob es sich unter den Kopf.
In der zunehmenden Dunkelheit hatten die Gegenstände bald nur noch verschwommene Konturen. Unmittelbar vor ihm lag ein Eimer, dessen verbeulter Boden ihm zugewandt war, und rechts davon stand der Munitionskasten. Sie verwandelten sich in einen Kreis und ein Rechteck und sahen aus wie Buchstaben – wie ein »O« und ein »P« 51 .
»Was kann das sein?«, überlegte Dostojewski im Einschlafen. »Optina Pustyn … Wie lange das her ist … Optina Pustyn Solowjow …«
XIV
T. kam wieder zu sich. Und erkannte auf der Stelle, dass er das besser gelassen hätte – ringsum war nichts.
Nicht Ariel an der Turingmaschine, nicht die Turingmaschine selbst, nicht diese wattige Schwärze, die man gemeinhin mit dem Wort »Nichts« bezeichnet. Das heißt, die Schwärze kam zum Vorschein, aber erst, nachdem T. sich umgesehen und davon überzeugt hatte, dass es stockfinster war. Vorher war nicht einmal sie da.
So vergingen einige Sekunden – vielleicht auch Jahrhunderte oder Jahrtausende.
In einer dieser Sekunden begriff T., dass er die Ewigkeit sah – und dass sie genau so war, dunkel, ungewiss und sinnlos, ohne jede Vorstellung von sich selbst.
Bei dieser Erkenntnis erschrak T. Und mit dem Erschrecken kam die Überzeugung, dass er immerhin existierte.
»Ich muss ununterbrochen etwas denken, weil ich sonst komplett verschwinde, mich auflöse wie Zucker … Egal was, Hauptsache denken …«
Doch in der Verschwommenheit, die ihn umgab, war nichts, woran sich ein Gedanke hätte festklammern können, und nach einigen kraftlosen Zuckungen seines Geistes stürzte T. erneut in die Ewigkeit.
»… Optina Pustyn …«
Dieser Gedanke brachte ihn wieder zu sich. In der Ewigkeit war alles beim Alten.
»Wenn ich noch einmal so abtauche«, begriff T., »dann tauche ich nie wieder auf … Und das soll alles gewesen sein? Bin ich wirklich nur für einen Augenblick aus dem grauen Dämmer erstanden, um dann spurlos wieder darin zu verschwinden? Und das Versprechen von Wunder und Glück, das im Himmel, im Laub, in der Sonne war – alles nur Lüge? Nein, das kann nicht sein … Denken! Egal woran … Übrigens kommen interessante Dinge dabei heraus. Die brennendsten Fragen der Gegenwart sind keineswegs ›Was tun?‹ und ›Wer ist schuld?‹. 52 Sie lauten ganz anders: ›Wo bin ich?‹ und ›Wer ist hier?‹. Jeder erlebt früher oder später den Moment, an dem man das vor sich selbst nicht länger verbergen kann. Aber wenn es endlich so weit ist, kann man der Öffentlichkeit nichts mehr erklären …«
Das kleinste Stocken im Denken war unheimlich, weil das Bewusstsein zu schwinden begann. Das Bewusstsein war offenbar eine Art Spannung zwischen zwei Magnetpolen: Für seine Existenz war ein Gedanke und jemand, der diesen Gedanken denkt, unabdingbar, denn sonst gäbe es nichts, dessen man – und niemanden, der – sich bewusst sein könnte. Damit also das Bewusstsein nicht schwand, musste man es fortwährend durchkämmen und den ganzen Magneten neu erschaffen.
»Nicht umsonst gibt es so viel Hektik auf der Welt«, dachte T. »Die Leute sind ständig damit beschäftigt, sich selbst und das sogenannte Universum zu durchkämmen, um nicht völlig spurlos zu verschwinden. Mit Harken, mit Teleskopen, mit allem Möglichen. Sie verstecken sich vor der Ewigkeit, in die wir kein Quäntchen dessen, was wir einst waren, mitnehmen können … Der russische Bauer zum Beispiel denkt nicht über das Jenseits nach, er richtet sich gelassen im Diesseits ein. Man braucht gar nichts weiter zu suchen als dieses Verständnis des einfachen Volkes, denn genau das bedeutet die Rettung vor dem Abgrund. Wenn ein Bauer stirbt, gibt es nichts, was in einen Abgrund stürzen könnte. Das ist die einzige Rettung, die es gibt. Ein Leben aber, das der Philosophiererei gewidmet ist, erschafft doch denjenigen, der voller Entsetzen in den Abgrund stürzt und nicht die geringste Chance hat, denn, so fragt man sich, was für eine Chance kann es da geben? Noch gibt es den, der eintritt – doch wer hier eintritt, der
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