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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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lasse alle Hoffnung fahren … Es heißt ganz richtig: Seid wie die Kinder. Denn Kinder stürzen in einer solchen Situation nicht in den Abgrund – sie selbst sind der Abgrund …«
    Der Geist, der keinen Halt mehr fand in den Sinnen und auf sich selbst gestellt war, glich einem Blatt Papier, das auf die Ewigkeit zustrebte, und zwar so, dass seine gesamte Fläche sich zu einer hauchdünnen Linie zusammenzog.
    »Man merkt sofort«, dachte T. erschrocken, »dass hinter diesem ganzen Krampf kein Denker steht, sämtliche Spiralen dieser schwankenden Gedankenkonstruktionen sind nur Schwindelei, ein Versuch, etwas, das es in Wirklichkeit nie gegeben hat, zur Existenz zu zwingen. Und nicht nur, dass es das nicht gab und nicht gibt, es gibt nicht einmal etwas, aus dem es hätte kommen können. Aber obwohl es der reinste Schwindel ist, hat es eine Zeit lang funktioniert … Das war dann das Leben.«
    Die Gedanken mussten gewaltsam erzwungen werden, wie ein Erbrechen – im Grunde mutete die Existenz nun auch an wie gewaltsam erzwungenes Erbrechen.
    »Ich denke, also bin ich«, fiel T. ein. »Wer hat das gesagt? Descartes. Schon erstaunlich, was für schwindelerregende Sprünge über den Abgrund diese Franzosen fertigbringen, wenn sie ein Glas Rotwein getrunken haben! Oder sehen sie den Abgrund nicht? ›Ich denke …‹ Aber plötzlich denkt jemand anderes? So einer wie Ariel? Woher weiß denn dieser Einfaltspinsel, dass er selbst denkt? Descartes hat übrigens insofern recht, als dieses sein ›Ich‹ nur so lange existiert, wie er daran denkt. Der Franzose hätte nicht ›Ich denke‹ sagen sollen, sondern ›Ich denke Ich ‹. Denn selbst kann dieses ›Ich‹ weder denken noch existieren, weil es verschwindet, sobald Descartes aufhört, daran zu denken, wenn er beschließt, ein Glas Rotwein zu trinken …«
    Als T. diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, erkannte er entsetzt, dass er keinen weiteren Gedanken vorbereitet hatte – und er verschwand schlagartig.
    Durch eine ungeheure Willensanstrengung zwang er sich, aus dem Nirgendwoher wieder aufzutauchen. Das war sehr beängstigend, weil er nicht begriff, wie er das gemacht hatte – und weil er nicht wusste, ob es ihm wieder gelingen würde.
    »Ich muss an etwas Einfaches, Konkretes denken«, beschloss er. »Mich an etwas erinnern, was früher war. Und mich daran festhalten.«
    T. rief sich das weiße Adelsgut auf dem Hügel in Erinnerung, das er aus dem Zugfenster gesehen hatte. Dann zwang er sich, das Zugabteil in allen Einzelheiten vor sich zu sehen, Knopf am Fenster, den Fluss, die Brücke und das Schiff der Fürstin Tarakanowa.
    Das hielt ihn tatsächlich über Wasser.
    Je stärker T. sich auf die Erinnerungen konzentrierte, desto konkreter wurden sie – und allmählich schien ihm, dass er eine Art Tagtraum erlebte. Einiges erkannte und bemerkte er erst jetzt, zum Beispiel trug einer von Knopfs Gefährten das Abzeichen des Erzengel-Michael-Bundes an der Jacke und im Speisezimmer auf dem Schiff der Fürstin Tarakanowa roch es schwach nach Patschuli.
    Auch der Herr mit Melone und Zigarre im Mund fiel ihm wieder ein, der in Kowrow auf der Straße in einer Kutsche an ihm vorbeigefahren war: ein Herr, der augenscheinlich überzeugt war von seinem Platz in der Welt und von der Unerschütterlichkeit dieser Welt. Und ganz deutlich sah er das rührende kleine Mädchen in dem rosa Kleid, das im Hotel Dworjanskaja im Korridor an ihm vorbeigelaufen war.
    Aber die Erinnerungen waren wie das Petroleum in einer Lampe: Sie brannten allmählich herunter. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber als sein Gedächtnis beim letzten Ereignis ankam, an das er sich noch erinnern konnte – die Explosion bei dem verlassenen Bootshaus –, fand der gesamte Umriss des soeben verklungenen Lebens seine endgültige Form. Auf der letzten Seite stand schon ein Punkt, nun konnte man kein einziges Zeichen mehr ändern. Die Erinnerungen versiegten und T. ahnte beklommen, dass er im nächsten Augenblick von Neuem in die Nicht-Existenz stürzen würde: Die Nahrung, die dem Verstand erlaubt hatte zu existieren, war zur Neige gegangen.
    »Vielleicht«, überlegte T., »war es nicht einmal ich selbst, der sich erinnert hat? Vielleicht hat mich jemand an den Anfang zurückgespult? Was soll ich jetzt tun? Wie kann ich das stoppen? Begehrlichkeiten wecken? Und seien es die finstersten, niedersten … Habe ich überhaupt welche? Axinja, zum Beispiel … Hübsch war sie, ja … Habe ich sie

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