Tolstois Albtraum - Roman
wirklich geliebt? Erinnert sie sich überhaupt an mich? Bedrückt sie die Trennung? Ach was, sie findet jemand anderen … Ganz zu schweigen davon, dass das sowieso nicht sie war, sondern dieser verfluchte Mitjenka …«
Aber dennoch kam ihm Axinja so betörend lebhaft in Erinnerung, dass sie für einen Moment das von allen Seiten drohende Nicht-Sein verdrängte.
»Das Leben ist wahrhaftig wie ein Text, den wir unaufhörlich erschaffen, während wir atmen. Wie hat Ariel es genannt, eine Turingmaschine? Uns scheint, wir würden etwas tun, entscheiden, reden, aber in Wirklichkeit läuft einfach nur ein Lese- und Schreibkopf über das Papier, liest ein Zeichen ab und druckt ein anderes. Das ist dann der Mensch …«
T. strengte sich an und rief sich Ariels Worte genau in Erinnerung:
»Und dann versucht dieser Text, von dem völlig unklar ist, wer ihn geschrieben hat, selbst etwas zu schaffen, sich selbst etwas auszudenken – das ist doch kaum zu begreifen. Mein Großvater hat immer gesagt, der Mensch ist ein so geisterhaftes Wesen, dass es doppelt sündig ist, noch mehr Geister in die Welt zu setzen …«
»Sündig?«, überlegte T. hoffnungsfroh. »Sünde? Das hingegen ist interessant. Denn wenn es eine Sünde gibt, gibt es auch einen Sünder. Da besteht gar kein Zweifel. Vielleicht können wir uns wenigstens daran festhalten? Aber wie kann man ohne Körper sündigen? Gar nicht so einfach … Gotteslästerung? Wohl kaum. Das kümmert hier doch niemanden … Es sei denn, man setzt wirklich neue Geister in die Welt. Wie macht Ariel das? Er setzt sich hin und schreibt. Aber hier gibt es keine Feder, keine Hand, keinen Tisch, kein Papier …«
T. versuchte, sich eine Gänsefeder vorzustellen.
Es gelang ihm.
Daraufhin stellte T. sich einen Schreibtisch aus Holz mit einem Stapel Papier vor.
Auch das gelang sofort, und sehr erfolgreich – der Schreibtisch geriet so deutlich, dass man auf der Arbeitsfläche die Maserung der schräg verlaufenden Jahresringe erkennen konnte, die sich zu einer Frauenfigur mit übermäßig dicken Beinen und vielen Ketten um den langen Hals zusammenfügten. Das Papier gelang ebenfalls hervorragend, man konnte sogar die Textur erkennen. Neben dem Papier erschienen ohne große Anstrengung eine brennende Kerze und ein bronzenes Tintenfass in Form eines Schwans, zwischen dessen Flügeln ein kleiner schwarzer See glitzerte.
Aber plötzlich war die Feder verschwunden. Als es gelang, sie wiederherzustellen, waren der Schreibtisch, das Papier und das Tintenfass verschwunden.
»Hier ist der Schreibtisch«, dachte T., wobei er unter großer Willensanstrengung den Schreibtisch an seinen Platz zurückstellte. »Wo steht er? Ein Schreibtisch steht doch in einem Zimmer …«
Anstelle eines Zimmers jedoch erschien ein ganz deutlich erkennbares Zelt, so ähnlich wie ein Armeezelt. Doch noch bevor T. sich erschrecken konnte, war das Zelt schon wieder verschwunden.
Einen Augenblick lang empfand er eine so grenzenlose Einsamkeit, dass sie ihm vorkam wie ein physischer Schmerz.
»Nicht aufgeben. Ein Zimmer muss Wände haben. Wenigstens eine einzige Wand …«
Er blickte dahin, wo die Wand sein müsste, und tatsächlich sah er sie – vielmehr erschuf er sie mit seinem Blick. Genauso sah er dann auch die übrigen Wände. Das Zimmer erschien gewissermaßen der Bewegung seiner Blicke folgend – und genau genommen war es noch kein Zimmer, sondern vier der Reihe nach auftauchende, eichengetäfelte Wände. An der einen Wand hing eine impressionistische Zeichnung der Champs-Élysées in einem vergoldeten Rahmen: ein paar angedeutete Pferdekruppen und darüber gelbe und rote, vom Abendnebel verwischte Lichtflecken.
T. hob den Blick und ließ ihn wieder sinken, und das Zimmer bekam Decke und Boden – aber nun waren die Wände verschwunden. Als er den Blick auf die Wand richtete, tauchte sie ohne Weiteres wieder auf, aber jetzt war das Bild nicht mehr da. Und die Decke war auch verschwunden.
Ein paar Minuten später war es ihm schließlich trotz allem gelungen, das Zimmer als Ganzes zu erschaffen. Es sah aus wie ein Hotelzimmer, ordentlich aufgeräumt und ganz normal – bloß ohne Fenster und Türen.
»Das ist gut«, beschloss T. »Fenster und Türen sind gar nicht nötig. Wer weiß, was dahinter …«
Er durfte nicht daran denken, was sich jenseits der Wände befand, sonst brach womöglich der Abgrund herein. T. wollte auf keinen Fall wieder verschwinden, ohne Garantie, dass er zurückkehren
Weitere Kostenlose Bücher