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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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auf etwa hundert Meter herangekommen. Dostojewski schob die Brille hoch, hielt ein Opernglas aus Perlmutt vor die Augen und musterte sie genauer.
    Vorneweg gingen drei Diebe, dahinter fünf Studenten (natürlich keine echten Diebe und keine echten Studenten, Dostojewski hatte die Zombies aus einer diffusen, ihm selbst kaum erklärlichen Assoziation heraus so klassifiziert). Den Abschluss der Prozession bildeten zwei Zombie-Gardisten in weißen Offiziersuniformen und zwei Zombie-Offiziersburschen mit dem Gepäck. Insgesamt zwölf Mann, wie es sein musste.
    Dostojewski überlegte ein paar Sekunden, was er machen sollte – sie herankommen lassen und mit dem Jagdgewehr aus nächster Nähe erschießen oder die letzte Unterlaufgranate an sie verschwenden.
    »Besser die Granate«, beschloss er. »Sonst rennen sie in alle Richtungen weg …«
    Der Granatwerfer war langerprobt und zuverlässig eingeschossen, so dass Dostojewski alle folgenden Handlungen, ohne nachzudenken, ausführte: Er verstellte die Kimme bis in die oberste Position, nahm das » CH « in dem riesigen roten Graffito » SATANS LOCH « an der Mauer der granitenen Villa aufs Korn und wartete, bis die toten Seelen nah genug herangekommen waren.
    Unter dem » CH «, ungefähr einen halben Meter über dem Fahrdamm, war die Mauer durchsiebt mit Einschussspuren, die aussahen wie in Stein gemeißelte, gigantische Kamillen. Mit der Zeit verschwanden die alten Spuren, weil immer wieder neue Detonationen den Granit zersplitterten.
    »Nichts auf der Welt ist von Dauer«, überlegte Dostojewski und seufzte, bevor er auf den Abzug drückte. »Gingen einst zwölf Zombies – und wo sind sie jetzt?«
    Die Granate klatschte gegen die Wand, als sich die ganze Gruppe neben dem Wort » LOCH « befand. Fauchend quoll eine bläuliche Rauchwolke hervor – der Treibladungszünder hatte funktioniert –, und Sekundenbruchteile später lief eine Welle über die Wand und fegte die Zombies nach allen Seiten auseinander: Das Aerosol war explodiert.
    »Bu-bumm!«, klang es herüber, ein angenehmer, tiefer Laut wie ein Wort aus einer strengen, prähistorischen Sprache.
    Dostojewski hielt sich wieder das Opernglas an die Augen.
    Alle waren erledigt, nur einer der beiden Zombie-Gardisten drehte sich auf der Stelle und ruderte mit seinem Bein in der blutbeschmierten Hose wie ein nicht ganz zerquetschtes Insekt. Man mochte sich gar nicht vorstellen, was dieser arme Kerl durchmachen würde, wäre er ein lebendiger Mensch. Ihn mit dem Jagdgewehr zu treffen war knifflig – er zappelte so herum –, aber zum Glück stand in seiner Nähe ein rotes Benzinfass.
    Dostojewski legte das Jagdgewehr an, verstellte die Kimme um zwei Teilstriche, fixierte im Dioptervisier die gelbe Markierung auf dem Fass, hielt den Atem an und schoss. Das Fass verwandelte sich in einen gelben Feuerball und der Zombie-Gardist war erledigt.
    »Ich verschwende meine Patronen«, stellte Dostojewski betrübt fest, als er aus der getarnten Grube kroch. »Ich breche meine eigenen Regeln …«
    Er kletterte über den Weihnachtsbaum und näherte sich der Explosionsstelle.
    Von nahem sahen die Leichen schlimm aus. Besonders abscheulich waren ihre hervorquellenden Augen – als hätte ihnen jemand vor dem Tod eine große Überraschung bereitet. Der Unterdruck.
    »Warum ist das Leben so billig geworden?«, überlegte Dostojewski. »Wohl deshalb, weil der Tod billig ist. Früher starben in einer Schlacht zwanzigtausend Mann und ihrer gedachte man jahrhundertelang, weil es für jeden dieser zwanzigtausend jemanden brauchte, der ihn persönlich umbrachte. Ihm mit ruhiger Hand die Gedärme herausriss. An einer einzigen Schlacht sättigte sich das gewaltige Heer aller Teufel, die dem menschlichen Geist innewohnen. Aber heute reicht ein Knopfdruck, um zwanzigtausend umzubringen. Zu wenig für ein dämonisches Gelage …«
    Die Ausbeute war nicht schlecht. Fünf Flaschen Wodka von den Studenten – zwei davon waren bei der Explosion geplatzt, aber drei waren noch heil. Die Zombie-Gardisten hatten jeder eine Flasche vornehmen Kognak und in den Taschen der Zombie-Offiziersburschen fanden sich vier lange Würste, zwei Verbandskästen und fünf Mullbinden. Die Diebe hatten weder Essen noch Alkohol, dafür aber drei Schuss für den Granatwerfer. Das war der wertvollste Fund, weil er für die nächste Zeit sowohl Wurst als auch Wodka und andere Freuden des bescheidenen nördlichen Lebens versprach. Der eine Dieb hatte zudem ein Buch dabei –

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