Tolstois Albtraum - Roman
fünfmal Kampfstarre oder für einen Wunsch. Als der bläuliche Dunst sich verflüchtigte, war er wie immer versucht, zu den Leichen zu gehen und nachzusehen, wie sich die Gesichter verändert hatten. Die Versuchung war stark, doch er überwand sie, drehte sich um und ging zurück zum Schützengraben.
»Ich muss es ins Tagebuch eintragen. Und zwar sofort, sonst vergesse ich es wieder. Letztes Mal habe ich es schon nicht gemacht …«
Er legte seine Beute in der Grube ab, suchte einen gespitzten Bleistift, nahm die Ausgabe von Snob zur Hand, schlug die Seite mit den »Todesregeln« auf und fügte ganz unten mit sparsamer Schrift hinzu:
– Wenn Sie die Seelen herausgesaugt haben, sollten Sie niemals in die Gesichter blicken. Ja, es ist wahr – sie verändern sich. Aber wenn Sie unbedingt wissen wollen, wie, dann machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie die nächsten zwei Wochen keinen Appetit haben werden.
– Halten Sie immer die Waffe bereit, wenn Sie sich einem gefallenen Feind nähern – er könnte noch leben!
Das in die Haut eingepflanzte Dosimeter fing wieder an zu surren. Fluchend zog Dostojewski den Kognak aus der Tasche, trank den Rest und schleuderte die Flasche aus dem Schützengraben dahin, wo schon ein Haufen Abfall lag.
»Unsere Stadt soll sauber werden!«, brummte er und legte sich auf den Strohsack unter dem mit trockenen Tannenzweigen getarnten Schutzdach aus Sperrholz.
Jetzt konnte er bis zum Morgen ausspannen, ohne dass er befürchten musste, Besuch zu bekommen: Die toten Seelen mieden Straßen, wo einige von ihnen dem endgültigen Tod begegnet waren. Zumindest einen oder zwei Tage, solange die Leichen noch nicht ganz in ihre Bestandteile zerfallen waren.
Dostojewski öffnete den erbeuteten Konfuzius und begann, ihn aufs Geratewohl durchzublättern. Je länger er las, desto sinnloser erschien ihm der Text – beziehungsweise desto deutlicher schien jener feine, flackernde Sinn durchzuschimmern, den der echte Intellektuelle sogar in einem Telefonbuch zu entdecken imstande ist. Offenbar verwiesen Konfuzius’ Hieroglyphen auf längst von der Welt geschiedene Wesen, und seine Ausdrucksweise in eine moderne Sprache zu übersetzen war unmöglich. Dostojewski wollte das Buch schon der leeren Flasche hinterherwerfen, als inmitten des ganzen Wortmülls plötzlich ein echter Diamant funkelte:
Konfuzius sprach:
– Es gibt drei nützliche Freunde und drei Freunde, die Schaden bringen. Nützlich ist der gerechte Freund, der aufrichtige Freund und der Freund, der viel weiß. Schädlich ist der schmeichlerische Freund, der doppelzüngige Freund und der wortgewandte Freund.
Dostojewski klappte das Buch zu und blickte träumerisch nach oben – dahin, wo zwischen dem Rand einer Wolke und dem Dach eines Mietshauses ein Stück Himmel zu sehen war.
»Es ist wahr. Das mit den schmeichlerischen Freunden stimmt und das mit den wortgewandten auch. Das vor allem … Und das mit den nützlichen Freunden stimmt auch. Ich hätte gerne einen aufrichtigen Freund und noch dazu einen, der viel weiß … Aber wo soll ich den hernehmen?«
Das Dosimeter fing wieder an zu surren. Dostojewski fluchte leise. Jedes Mal, wenn er mit einer Beute in die Grube kam, ging das Ding doppelt so oft los wie sonst.
»Vielleicht schleppe ich Staub rein«, überlegte er und öffnete die Wodkaflasche. »Obwohl – das hat bestimmt nichts damit zu tun. Staub gibt’s ja hier überall …«
Er nahm einen großen Schluck und wartete, bis das Dosimeter sich beruhigt hatte.
»Jetzt fängt das Ding alle fünf Minuten an zu surren. Wie öde! Heute lass ich mich volllaufen … Ich muss mir überlegen, was ich mit dem Mana mache, solange ich noch nüchtern bin. Sonst stelle ich wieder wer weiß was an …«
Er zog den Flaschenkürbis unter der Achsel hervor und erstarrte – es war kein Mana drin. Überhaupt keins.
»O Gott, ist der etwa aufgeplatzt?«
Aber der Kürbis war heil. Einen Moment lang überlegte Dostojewski missmutig, was passiert war – und als er es begriff, fing er an zu lachen.
»Ich hab einen Wunsch ausgesprochen. Und es gar nicht gemerkt, so was … Einen aufrichtigen Freund hab ich mir gewünscht … Zum Totlachen. Das glaubt mir doch keiner. Aber wem sollte ich das schon erzählen? Fjodor Kusmitsch vielleicht? Den interessiert das nicht … Meinem Freund werde ich es erzählen, wenn ich dann einen habe …«
Schade um das Mana, damit hätte er ein praktisches Problem lösen können. Sich neue Stiefel zulegen, zum
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