Tolstois Albtraum - Roman
könnte.
»Außerdem«, überlegte er, »wieso ausgerechnet der Abgrund? Schließlich habe ich mir den ›Abgrund‹ genau so vorgestellt wie dieses Zimmer, um den Blick wenigstens irgendwohin richten zu können. Denn im Grunde genommen … Ich weiß nicht einmal, wie ich es ausdrücken soll … Jedenfalls denke ich schon wieder nicht daran, woran ich denken sollte …«
T. überflog das Zimmer mit einem raschen Blick, um sich davon zu überzeugen, dass er imstande war, dessen Existenz aufrechtzuerhalten. Das war zu viel der Anstrengung – augenblicklich füllte sich das Zimmer mit einer Vielzahl von Gegenständen, die eine Sekunde zuvor noch nicht dagewesen waren. An der Wand hingen jetzt ein Tirolerhut mit Feder, ein Hirschgeweih, eine Doppelflinte, rote Samtvorhänge (immer noch ohne Fenster dahinter) und zwei Petroleumlampen, die ein grellweißes Licht abgaben. Eine Tür gab es nach wie vor nicht.
T. blickte zum Schreibtisch hinüber.
»Eine Feder kann nicht einfach in der Luft hängen«, dachte er. »Und auch nicht von selbst über das Papier gleiten. Es braucht eine Hand dazu …«
Sich die eigene Hand vorzustellen war das Schwierigste überhaupt. T. konnte sich einfach nicht erinnern, wie sie aussah: Alle Hände, die vor seinem inneren Blick vorbeizogen – rundliche Hände mit kurzen Fingern, rote, blasszarte, gebräunte, asiatisch-gelblich getönte –, gehörten ganz offensichtlich nicht zu ihm. Schließlich stellte T. sich eine Hand in einem weißen Glacéhandschuh vor.
Die behandschuhten Finger hoben nach einer kurzen, unbehaglichen Pause die Feder, tunkten sie in das Tintenfass und malten eine kurze Linie auf das Papier.
Die Feder warf einen doppelten Schatten. Im grellen Petroleumlicht war das Blatt deutlich zu erkennen; sogar die feinen Poren im Papier konnte man unterscheiden und die hauchdünnen, fast unsichtbaren schwarzen Härchen entlang der Linie, die die Feder über das Papier gezogen hatte – die naiven Versuche der Tinte, sich zu befreien und in die Kapillaren des Papiers zu entwischen. T. grinste.
»Genau wie der Mensch«, dachte er. »Wohin soll man fliehen? In der Tat, wohin, wenn alles auf der Welt nur Text ist, wenn Papier, Feder und Tinte derjenige hat, der die Buchstaben malt? Jetzt male ich sie allerdings selbst … Doch wer bin ich selbst? Ariel vielleicht?«
Dieser Gedanke war entsetzlich.
»Arbeiten. Für einen russischen Bauern ist es lächerlich, wenn die müßige Herrschaft sich den Kopf über die Unendlichkeit zerbricht. Denn der russische Bauer kennt von morgens bis abends nichts als Arbeit. Also werden auch wir arbeiten und uns nicht ablenken lassen. Versuchen wir mal, etwas zu schreiben …«
Die Feder fuhr über das Papier und schrieb:
Ein Fluss
T. konnte den Fluss sofort sehen – er war smaragdgrün und strömte vorbei an roten steinernen Abstufungen, über denen sich die Ziegeldächer niedriger weißer Häuser erhoben. Es schien irgendwo in Italien zu sein.
»Interessant«, dachte T. »Woher kommt denn der Rest – das Ufer und die Häuser? Ob man das ändern kann?«
Er tunkte die Feder in die Tinte und fügte etwas hinzu:
Ein Fluss , Zugefroren
Der Fluss war nun ein anderer. Anstelle des smaragdgrünen Bandes erstreckte sich eine endlose Eisfläche vor T. – der Fluss war jetzt sehr breit. Die roten Abstufungen am Ufer waren verschwunden. Ringsum war nun alles von Schnee bedeckt. Es war ein Winterabend; zwischen gelblich blauen Wolken glühte das rote Auge der untergehenden Sonne. T. fühlte sich überwältigt von einer fröhlichen, funkelnden Kraft, ähnlich jenem sonnigen, smaragdgrünen Strom, der ihm zu Anfang erschienen war.
»Also kann ich es wirklich alles selbst«, dachte er. »Ariel und seine Gehilfen haben keine Macht mehr über mich. Wer ist jetzt mein Schöpfer? Ich selbst! Endlich … Ich kann mich neu erfinden. Aber wir wollen nichts übereilen. Für den Anfang ist Graf T. ganz brauchbar. Als Allererstes muss ich weg aus dieser jenseitigen Dimension … Wenigstens dahin zurück, woher wir gekommen sind. Versuchen wir mal die kürzeste Strecke …«
Der Handschuh näherte sich dem Blatt und fing schnell an zu schreiben:
Ein Fluss, zugefroren – es war zweifellos der Styx, der die Welt der Lebenden von dem trennt, für das es in der menschlichen Sprache keine Worte gibt. Der dreiköpfige Zerberus, der Wächter an der Pforte zur Unterwelt, war irgendwo in der Nähe – das ließ sich an dem bangen Schauder erkennen, dessen Wellen die
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