Tolstois Albtraum - Roman
Seele durchströmten. Aber Graf T. hatte den Wächter noch nicht gesehen. Er ging am Ufer entlang, in Richtung der verschneiten Ruinen, die am Rande des Eisfeldes zu sehen waren. Es war das Ufer des Todes …
Die düsteren Farben des Sonnenuntergangs drängten mit solcher Macht ins Bewusstsein, dass die Hand in dem Handschuh verschwand. Es war unerklärlich, woher diese ganze Welt kam, so real und blendend grell: T. hatte nie zuvor etwas Ähnliches gesehen.
Die Lichter des Sonnenuntergangs erloschen allmählich und T. sah wieder das Zimmer ringsum. Es hatte sich verändert. Der Tirolerhut und das Hirschgeweih waren verschwunden, die Samtvorhänge ebenfalls – dafür gab es jetzt eine ganze Kollektion mit Darstellungen von Katzen.
Die größte war eine schwarze afrikanische Maske mit geheimnisvoll schwarz schimmernden Augenlöchern und einem Schnurrbart aus Strohfäden. Darunter hing ein Regal mit allerlei Katzen aus Terrakotta, bemaltem Ton und Steingut – besonders auffallend war ein vornehmes orientalisches Tier von goldgelber Farbe mit einer Klapper in der einen und einem Fächer in der anderen Pfote.
Eine der Katzen – eine kleine, schwarze ägyptische Statuette, dem Aussehen nach sehr alt – erschien T. unbeschreiblich bedrohlich. In ihren dunkelgrünen, mandelförmigen Augen lag eine ungeheure Sogkraft: T. kam es vor, als könnte er sich in diese Augen ergießen, wie ein Regenbach ins Gitter der Kanalisation strömt, und er wandte rasch den Blick ab.
»Hier ist es aber ungemütlich«, dachte er. »Was soll ich jetzt mit diesem Zimmer? Die Hauptsache ist, sich zu erinnern, wie die Welt entstanden ist. Früher wurde sie von einem fremden Willen erschaffen, aber jetzt … Schauen wir mal, wozu ich selbst imstande bin …«
Mittlerweile waren ringsum noch mehr Regale mit Katzen aufgetaucht. T. bemühte sich, sie nicht anzusehen, und konzentrierte sich auf die Hand in dem weißen Handschuh. Die Hand tunkte die Feder ins Tintenfass und führte sie wieder auf das Papier. Ein Tintentropfen fiel von der Feder auf das Blatt und verwandelte sich in einen akkuraten runden Klecks. Seine feuchte Oberfläche reflektierte das Licht der Lampe und wurde einen Augenblick lang weiß – es schien T., als läge vor ihm auf dem Papier eine Silbermünze.
XV
T. dachte nicht darüber nach, woher er kam und warum er eine Silbermünze in der Hand hielt. Er wusste, dass er nichts zu fürchten hatte. Was früher gewesen war, beunruhigte ihn nicht. Er war überzeugt, sich jederzeit an alles erinnern zu können, wenn er nur innehalten und sich genügend konzentrieren würde. Aber er durfte nicht innehalten: Er musste es noch vor Sonnenuntergang schaffen.
Außerdem hatte er keine Lust, in seinem Gedächtnis zu wühlen. Das Bewusstsein spiegelte lediglich die Realität wider, wenn es feststellte, dass der Wind pfiff, der Schnee unter den Füßen knirschte und sich am Horizont das rote Glühen der untergehenden Sonne ausbreitete. Er wäre vollkommen ruhig gewesen, wären nicht diese Wellen jäher Angst gewesen, die von Zeit zu Zeit sekundenlang heranschwappten. Wie angeflogen.
T. wusste, dass er die Münze dem Fährmann in dem halbzerfallenen Gebäude am Rand der Eisfläche geben musste.
»Aber was soll das für eine Fähre sein?«, überlegte er. »Hier ist doch nur Eis … Schon gut, das werden wir gleich erfahren.«
Bald war das Gebäude ganz nah. Es hatte zwei Stockwerke – die oberen Fenster starrten mit blicklosen Augenhöhlen und die unteren hatte jemand notdürftig mit Ziegelsteinen zugemauert. Ein Dach gab es nicht, vermutlich war es längst eingestürzt.
In der der Eisfläche zugewandten Mauerseite befand sich eine hohe Tür mit einem kleinen Fenster und einem winzigen Guckloch. Gegenüber der Tür erhob sich eine langgezogene Schneewehe auf dem Eis. Als er genauer hinsah, erkannte T. darin die Konturen einer Fähre, die seitwärts geneigt war und zur Hälfte im Eis steckte.
T. ging zur Tür und klopfte.
Eine Minute verging. T. meinte, im Guckloch etwas aufblitzen zu sehen, aber das konnte auch ein Lichtreflex gewesen sein.
Plötzlich wurde das Fenster mit einem heftigen Knall aufgerissen. Eine Hand in einem schmuddligen grauen Ärmel wurde herausgestreckt. T. zögerte, doch die Hand schnipste ungeduldig mit den Fingern.
T. fiel ein, was von ihm verlangt wurde, und legte die Münze in die Hand. Die Hand verschwand und tauchte sofort wieder auf. Jetzt hielt sie ein Paar derbe eiserne Schlittschuhe an ledernen
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