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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Riemen. T. konnte gerade noch die Schlittschuhe nehmen, bevor das Fenster mit einem Knall wieder zugeschlagen wurde.
    T. musterte die Schlittschuhe. Sie waren alt, aus schwarz angelaufenem Metall, und hatten lauter Risse und Beulen. Von der Form her sahen sie aus wie ein Wikingerschiff; die Ähnlichkeit wurde noch betont durch Drachenköpfe auf den nach oben gebogenen Spitzen.
    In dem Moment krachte von innen etwas gegen die Tür und ein widerliches Knirschen erklang, als würde etwas Scharfes auf Metall kratzen. »Der Zerberus!«, begriff T.
    Er musste sich beeilen. Er lief zum Rand der Eisfläche, setzte sich in den Schnee und befestigte hastig die Schlittschuhe an den Füßen – die Lederriemen hielten die Kufen fest und sicher. Er stand auf, trat hinaus auf das Eis, warf noch einen Blick zurück auf die Ziegelruine und glitt auf den mit glutrotem Licht übergossenen Horizont zu.
    Er hatte sich erst wenige Male vom Eis abgestoßen und versuchte noch, sich an die Schlittschuhe zu gewöhnen, als von hinten das Quietschen rostiger Türangeln erklang. T. drehte sich um.
    Die Tür wurde geöffnet. T. sah eine Figur in einem unförmigen grauen Mantel, die Kapuze ins Gesicht gezogen, und einen merkwürdigen Hund – er sah aus wie ein großer Wolfshund, hatte aber abstoßende, hernienartige Säcke zu beiden Seiten der Schnauze. Diese Säcke bewegten sich und T. erkannte voller Abscheu, dass es zwei weitere Köpfe waren. Der Unbekannte in Grau ließ den dreiköpfigen Hund los, der zum Rand der Eisfläche gerannt kam.
    »Wenn das der Zerberus ist«, fiel es T. schließlich ein, »dann ist das hier der Styx … Jetzt heißt es, schnell ans andere Ufer … Den Fluss überqueren …«
    Er blickte sich nicht weiter um und nahm Anlauf auf die endlose spiegelnde Eisfläche. Es glückte nicht, wie in einem Traum, in dem man nie so schnell laufen kann wie in Wirklichkeit und wo einem die Beine nicht gehorchen.
    Der Zerberus fing an zu bellen – nicht, wie Hunde bellen, sondern vollkommen lautlos. Und doch war das Gebell deutlich wahrnehmbar, mit Wellen von Angst drückte es auf das Sonnengeflecht und T. fiel ein, dass er diese Krämpfe erstmals verspürt hatte, als er auf das Haus des Fährmanns zugegangen war, nur hatte er da nicht verstanden, was sie bedeuteten.
    Plötzlich sah er weiter vorn auf dem Eis einen Menschen liegen. Es war ein korpulenter Mann in einer Uniformjacke mit Wappenknöpfen, goldbetresstem Kragen und einem Kreuz am Hals. Er war zweifellos tot. Sein Dreispitz mit der buschigen weißen Feder lag ein paar Meter von der Leiche entfernt auf dem Eis und an seinem zerfetzten Hals schimmerte dunkel gefrorenes Blut.
    Dann entdeckte T. einen weiteren Leichnam, eine Frau in einem seidenen Nachthemd. Ihr Körper war von Hundezähnen zerfetzt.
    »Der Zerberus ist ein Wächter«, überlegte T. »Aber was bewacht er eigentlich? Man muss wohl kaum die Totenwelt vor den Lebenden bewachen. Eher umgekehrt …«
    Der Hund war schon ganz nah. Sosehr T. auch versuchte, sich zusammenzunehmen – es wollte ihm nicht gelingen, die Angst schnürte ihm die Kehle zu.
    »Es gab doch eine Gewähr dafür, dass alles ein gutes Ende nimmt«, überlegte er. »Was war das noch? Genau! Der weiße Handschuh. Bloß nicht vergessen – der weiße Handschuh …«
    Diese Worte halfen ihm eigenartigerweise.
    Er sah jetzt, dass er nicht schneller vorwärtskam, weil er sich viel zu ruckartig und zu heftig bewegte – er musste gleichmäßig dahingleiten, mit harmonischen, bedächtigen Armschwüngen und Beinstößen, locker hin- und herschwingend wie ein Pendel, der auf ihn zuströmenden Eisfläche entgegengleiten. Kaum hatte er damit angefangen, blieb der Hund immer mehr zurück. Bald wurde es T. leichter ums Herz. Er meinte sogar, in der Nähe jemanden lachen zu hören – aber es war der Wind, der lachte.
    Er glitt an weiteren seltsamen Leichen vorbei, an einer Dame in schwarzer Spitze, an einem ordentlich gekleideten Herrn mit Pferdekopf (T. musste an das sprechende Pferd denken) und schließlich an drei deutlich erkennbaren Napoleon-Leichen aus verschiedenen Lebensphasen: Der eine war ein schmächtiger junger Mann mit akkuratem Bärtchen und einer einsamen Ordens-Schneeflocke am Waffenrock, der andere war bedeutend älter und hatte einen gewichsten pfeilspitzen, weit abstehenden Schnurrbart und der dritte war eine Lebensabend-Version mit graumeliertem Haar und einer schlichten zweireihigen Weste unter einem dunklen Hausmantel. Die drei Napoleone

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