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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ein kleiner, stämmiger Mann mit kahlgeschorenem Kopf, noch ziemlich jung, in einer dunkelroten Kutte, deren Farbe und Schnitt ihn zwar von den städtisch gekleideten Menschen abhob, gleichzeitig aber keine allzu große Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, weil sie aussah wie ein auffallender, farbenfroher Sommermantel. In der einen Hand hielt er ein in Zeitungspapier verpacktes und mit Bindfaden verschnürtes Bild von beträchtlichen Ausmaßen, in der anderen drehte er eine mächtige hölzerne Gebetskette.
    »Herr Dschambon«, sagte T. »Ich habe Sie nicht so früh erwartet – wir waren um zehn verabredet, glaube ich.«
    »Wie Sie bemerkt haben, Graf, haben sich neue Umstände ergeben.«
    Der Lama wies mit dem Kopf in Richtung des Graugrünen. Der nahm seine Melone vom Tisch und richtete sich auf, bereit zum Kampf oder zur Flucht.
    »Ich habe Ihre Unterredung mit diesem Herrn gehört, Graf«, sagte der Lama. »Daher mache ich Ihnen keine Vorwürfe. An Sie, mein Herr«, der Lama wandte sich an den Graugrünen, »habe ich auch keine Fragen, so wie man einen Wolf nicht fragt, warum er Kälber reißt. Aber ich benötige diese Materialien, ein Klient wartet darauf. Sie gestatten …«
    Dschambon trat zum Tisch, nahm die Phonographen-Walze und die an Pobedonoszew adressierte Notiz, legte beides zurück in den Umschlag und steckte diesen in die Tasche seiner mantelartigen Kutte.
    »Das Geld ist in der Tasche beim Spiegel«, sagte T. »Nehmen Sie von den Imperialen, so viele Sie brauchen, und gehen Sie …«
    Diese Worte waren an den graugrünen Herrn gerichtet, der inzwischen direkt an der Eingangstür Stellung bezogen hatte. Er ließ sich nicht zweimal bitten, klimperte mit den Münzen, verneigte sich zu T. hin, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
    T. wandte sich dem Lama zu und zeigte eine zerknirschte Miene.
    »Mein Herr, gestatten Sie, dass ich Ihnen meine aufrichtigsten Entschuldigungen darbringe, das ist mir entsetzlich unangenehm … Glauben Sie mir, es ist ein Missverständnis – ich habe keinerlei Anordnungen in Bezug auf Sie gegeben.«
    Der Lama Dschambon stellte das Bild auf einen Stuhl und sagte:
    »Das macht nichts, Graf, ich sagte ja schon, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich Sie früher behellige als vereinbart. Ich musste selbst Spitzel anheuern, um diesen Langfinger zu verfolgen. Sie haben es sich doch nicht anders überlegt? Sie haben Ihre Meinung zu dem Experiment doch nicht geändert?«
    »Ich? Nein … Wenn Sie natürlich nach diesem Vorfall …«
    »Bislang ist nichts vorgefallen«, sagte Dschambon. »Die Beziehungen meiner Klienten untereinander gehen mich nichts an und ich mische mich da nie ein. Also, sind Sie bereit?«
    »Eigentlich ja«, erwiderte T. »Auch wenn ich mir nicht so richtig vorstellen kann …«
    Dschambon zog ein kleines Messer aus der Tasche, durchtrennte den Bindfaden, der das Bild zusammenhielt, schnitt das Zeitungspapier auf und zog es wie eine Hülle nach unten weg auf den Boden.
    T. erblickte ein Brustbild von Dostojewski: Er war in Lebensgröße abgebildet, in akademischer und leicht offiziöser Manier, großzügig versehen mit Beigaben – Haar, subkutaner Muskulatur und gesunder Gesichtsfarbe –, mit denen die dankbare Nachkommenschaft nie knausert.
    »Wozu das?«, fragte T.
    »Das ist meine Methode, mit den Geistern zu arbeiten«, versetzte Dschambon.
    »Sagen Sie, wie können Sie überhaupt den Geist eines Verstorbenen rufen? Gemäß Ihrer Religion wird er doch wiedergeboren?«
    Dschambon sah T. an.
    »Wie bitte?«, fragte er verwundert.
    T. empfand ein leichtes Unbehagen.
    »Nun, Sie sind doch Buddhist. Und im Buddhismus glaubt man doch, soweit ich weiß, an die Wiedergeburt der Seele. Es gibt doch sogar wiedergeborene Lamas.«
    »Das ist richtig«, sagte Dschambon. »Ich bin selbst ein wiedergeborener Lama.«
    »Aber wie kann man dann einen Geist rufen? Vielleicht ist er schon wieder körperlich geworden – zum Beispiel in diesem Detektiv, der Ihre Botschaft aus Pobedonoszews Briefkasten gestohlen hat! Und wir suchen Dostojewski irgendwo in der astralen Welt, ohne zu ahnen, dass er kurz zuvor noch hier bei uns war …«
    »Glauben Sie etwa an diesen ganzen Blödsinn?« Dschambon zog die Augenbrauen hoch.
    T. geriet aus dem Konzept.
    »Ich … Ich weiß es nicht, wirklich. Ich nahm an, dass Sie daran glauben. Schließlich sind Sie der wiedergeborene Lama, nicht ich.«
    Dschambon lächelte nachsichtig.
    »Falls

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