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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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Heilkräutern.«
    »Erlauben Sie mal«, bemerkte T., »Sie wollen mir also irgendein Gift verabreichen und mich obendrein auf dem Stuhl festbinden?«
    »Haben Sie kein Vertrauen zu mir?«
    »Es geht nicht um Sie. Ich habe viele Feinde und muss mich auf mich selbst verlassen können. Wenn die mich, verzeihen Sie, auf einem Stuhl festgebunden vorfinden … Nicht, dass ich unbedingt damit rechne, dass sich die Dinge so entwickeln, aber ich kann kein Risiko eingehen.«
    Dschambon versank in Gedanken.
    »Sagen Sie«, fragte T., »hat denn Ihre Arznei einen Einfluss auf das Bewegungsvermögen? Oder auf die Körperbeherrschung?«
    »Eben nicht. Aber Ihre Selbstwahrnehmung wird sich empfindlich verändern, und zu Ihrem eigenen Wohl …«
    »Ich weiß besser, was zu meinem Wohl ist«, antwortete T. »Können Sie das Experiment durchführen, ohne mich auf dem Stuhl festzubinden?«
    »Das ist gefährlich. Für Sie und für mich.«
    »Warum?«
    »Während des Experiments haben Sie möglicherweise den Eindruck, sich im Raum zu bewegen. Damit Ihr Körper keine Reflexbewegungen macht, muss man ihn fixieren …«
    Bei diesen Worten unterzog Dschambon die Figur von T. einer kritischen Betrachtung.
    »Mit einem Seil wäre es natürlich sicherer«, sagte er. »Aber ich denke, bei einer Pille schaffe ich es auch so. Wie wichtig ist diese Bedingung für Sie?«
    »Sie ist entscheidend.«
    »Dann verlange ich das Dreifache. Und zwar im Voraus.«
    »Schön, wenn man es mit einem Geschäftsmann zu tun hat«, lächelte T. »Nehmen Sie sich das Geld, der Beutel mit den Imperialen liegt beim Spiegel …«
    Während Dschambon die Münzen abzählte (was ziemlich viel Zeit beanspruchte), trat T. zu der Anrichte an der Wand, stellte sich so hin, dass Dschambon seine Hände nicht sehen konnte, und öffnete die Schublade. Darin lag ein Metallkonus mit einer gelben Zündkapsel und den auf dem flachen Boden eingravierten Worten Die Stumme . Es war die zweite Bombe – das Einzige, was T. von der Ausrüstung, die er aus Jasnaja Poljana erhalten hatte, noch geblieben war.
    »Die erste hieß Die Klaglose «, überlegte er, »und es stimmt, keiner hat sich hinterher beklagt! Und dieses Mal wird wohl keiner etwas sagen. Der Schmied de Martignac hat die tiefe Bedeutung des gewaltlosen Widerstands ganz richtig erfasst. Schade um das schöne Stück, aber wenn dieser Dschambon ein Verräter ist …«
    T. nahm die Bombe heraus und steckte sie unbemerkt in die Tasche. Als er an seinen Platz zurückkehrte, war der Lama gerade fertig mit dem Geldzählen und verbarg die Börse mit den Münzen lächelnd in den Tiefen seiner Kutte.
    »Alles in Ordnung«, sagte er. »Die Prozedur ist vom Ablauf her ganz einfach, wir können beginnen …«
    Er hatte plötzlich ein verschnürtes buntes Bündel in der Hand. Er löste es (flüchtig sah man ein Tuch mit einer düsteren religiösen Stickerei – blaue, dreiäugige Gesichter, Flammenzungen, dunkle Berge) und stellte eine mit Türkisen verzierte kleine Silberschatulle in Form eines Schädels vor T. auf den Tisch. Die blauen Augen des Schädels glotzten T. erstaunt an.
    »Machen Sie ihn auf«, befahl Dschambon.
    T. klappte den Deckel des Schädels zurück.
    Darin lagen drei Pillen, von der Form her ähnlich wie die Bombe in T.s Tasche – tropfenförmig, etwa so groß wie ein Fingernagel, dunkelgrau, mit Einsprengseln eines fein gemahlenen Krauts.
    »Was ist das?«, fragte T. Er nahm eine Pille heraus und inspizierte sie gründlich.
    »Das sind Shugdens Tränen «, erwiderte Dschambon. »Shugden, falls es Sie interessiert, ist der persönliche Schutzgeist des Großen Gelbmützenlamas aus dem Potala-Palast. Sie verstehen, das ist die beste Empfehlung überhaupt.«
    »Woraus werden sie gemacht?«
    »Aus einer Mischung von mehr als hundert Kräutern, Wurzeln und anderen Substanzen. Die genaue Zusammensetzung wird seit Jahrhunderten geheim gehalten.«
    T. bemerkte, dass am Boden der Schatulle für jede Pille eine Vertiefung eingelassen war – als wären die Tränen in drei verschiedene Richtungen gefallen.
    »Warum sind es ausgerechnet drei? Hat das etwas zu bedeuten?«
    »Entsprechend der Zahl der Augen«, erklärte Dschambon. »Für Laien wird eine Pille empfohlen, weil sie sozusagen nur mit einem halbblinden Auge auf die Welt schauen. Derjenige, der auf dem geistigen Weg schon gefestigt ist, kann zwei Pillen nehmen, weil er beide Augen offen hat. Drei Pillen sind nur demjenigen gestattet, bei dem das Auge der Weisheit geöffnet

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