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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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ist. Allerdings braucht er im Grunde gar keine Pillen, daher hat die dritte hier nur eine rituelle Funktion – so ist die Tradition. Sie müssen eine Pille nehmen. Oder eine halbe, mit Rücksicht darauf, dass wir das Experiment ohne Seil durchführen.«
    »Nein«, sagte T. »Zwei.«
    »Sind Sie ein Mensch auf dem Weg?«
    T. nickte.
    »Darf ich fragen, was Sie auf dem Weg erreicht haben?«
    T. blickte Dschambon unverwandt an.
    »Soll ich ihm alles erzählen?«, überlegte er. »Dafür ist gar keine Zeit …«
    »Zum Beispiel habe ich erreicht, gnädiger Herr«, erwiderte er leicht überheblich, »dass ich dieses Universum mit der Stadt Petersburg und dem hier anwesenden Lama Dschambon durch eine mystische Handlung aus der absoluten Leere selbst erschaffen habe. Ich bin der Vater des Kosmos und der Herrscher der Ewigkeit, aber ich bin nicht stolz darauf, denn ich erkenne deutlich, dass diese Augenscheinlichkeiten lediglich illusorische Zuckungen meines Geistes sind.«
    Dschambon fixierte T. aufmerksam und blickte lange, fast eine Minute lang, auf einen Punkt oberhalb seiner Brauen. Allmählich zeigte sich in seiner Miene eine Mischung aus Bestürzung und Respekt, wie bei einem Nomaden, der zum ersten Mal ein Automobil sah.
    »Interessant«, bemerkte er. »Ich höre solche Worte recht häufig, doch die Menschen, die sie aussprechen, begreifen gewöhnlich tief in ihrer Seele, dass sie lügen. Sie aber sagen allem Anschein nach die Wahrheit … Ich weiß nicht, Graf, auf welchem Weg Sie unterwegs sind, aber Sie können mit Sicherheit zwei Pillen nehmen. Ohne Bedenken. Und für mich, glauben Sie mir, ist es eine große Ehre, Ihnen als Führer zu dienen. Allerdings nimmt das Experiment viel Zeit in Anspruch, das Präparat wird bis heute Abend wirken. Daher schlage ich vor, unverzüglich zu beginnen …«
    Er stand auf, ging zur Anrichte, goss aus der Karaffe Wasser in ein Glas und kehrte zu T. zurück.
    »Trinken Sie«, sagte er. »Die Pillen brauchen einige Zeit, bis sie wirken. Unterdessen kann ich Ihnen weitere Erläuterungen geben. Für Sie ist das einfach.«
    T. bezwang seine Bedenken (er begriff gar nicht mehr, warum er eben noch auf zwei Pillen bestanden hatte), legte die grauen Kegel in den Mund und schluckte sie mit Wasser hinunter. Sie waren völlig ohne Geschmack und schienen aus Wachs zu sein.
    Dschambon drehte den Stuhl mit dem Porträt von Dostojewski so um, dass dieser sich direkt T. gegenüber befand.
    »So«, sagte er, »nun schauen Sie ihm direkt ins Gesicht. Stellen Sie sich vor, Ihnen sitzt ein lebendiger Mensch gegenüber. Dann versuchen Sie, jede Zweiheit abzulegen, und werden Sie selbst dieser Mensch. Versuchen Sie, sich in seine Welt zu versetzen … Stellen Sie sich die Frage, was diese Augen gesehen haben, als sie noch lebendig waren …«
    »Ich habe eine Vorstellung davon«, bemerkte T., während er das Porträt aufmerksam betrachtete, »was diese Augen jetzt sehen.«
    »Das ist noch besser«, erwiderte Dschambon. »Was denn? Einen Feuerfluss? Eine Eiswüste, einen himmlischen Garten?«
    »Eine Stadt«, sagte T., ohne den Blick von Dostojewskis Pupillen abzuwenden. »Irgendeine Stadt. Sie hat eine entfernte Ähnlichkeit mit unserer Stadt, aber sie ist bevölkert von wandelnden Toten.«
    »Ausgezeichnet!«, rief Dschambon begeistert. »Dann gehen Sie folgendermaßen vor: Zuerst versuchen Sie, die Stadt aus der Vogelperspektive zu sehen. Dann lassen Sie sich in irgendeine Straße hinuntergleiten.«
    »Wie soll ich das denn machen?«
    Dschambon blickte T. ungläubig an.
    »Durch Ihre persönliche Maya«, 54 erwiderte er. »Wie denn sonst?«
    T. spürte, dass er seine mühsam erworbene mystische Reputation durch solche Fragen rasch ruinieren könnte. Aber es bestand gar keine Notwendigkeit zu fragen.
    »Ich sehe schon etwas«, flüsterte er verwundert. »Ja, ich sehe etwas …«
    Es war wie in einem Tagtraum: Tatsächlich sah T. das Petersburg Dostojewskis, ungefähr aus der Höhe der Hausdächer. Wobei er die Stadt weniger sah, als dass er sie sich vorstellte oder sich erinnerte – aber er nahm sie ganz deutlich wahr. Er konnte sie betrachten und seine Aufmerksamkeit von einem Detail zum anderen wandern lassen.
    Die Häuser sahen verlassen und düster aus. Auf den Straßen waren weder Passanten noch Kutschen – nur einmal fuhr irgendwo weit weg ein Gefährt vorbei, das mit seinen seitwärts abstehenden langen, eisernen Zapfen aussah wie eine Muschel. Hier und da öffneten sich auf dem Fahrdamm

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