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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor Pelewin
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nicht. Der Lama war wendig wie ein Affe und schnappte immer nach seinen Handgelenken, und Dostojewski knallte ein paar Mal erbittert mit der Stirn gegen den kahlrasierten Schädel. Da rannte der Lama weg. Dostojewski jagte ihm lange hinterher – zuerst über die Granitstufen an der Uferstraße und dann durch eine Seitenstraße. Doch der Lama rannte sehr schnell.
    Plötzlich überlegte Dostojewski, das ganze Spektakel hätte inszeniert sein können, um ihn aus dem Schützengraben hervorzulocken. Fluchend rannte er ebenso schnell wieder zurück. Wieder in der Feuerstellung, setzte er die Brille auf, beugte sich über das Visier – gerade noch rechtzeitig, um das Undenkbare zu sehen.
    Von Westen her kam ein Mensch.
    Natürlich kamen von Westen her immer viele, besonders in letzter Zeit, doch der bärtige Mann in dem goldfarbenen, seidenen Morgenrock schien keine tote Seele zu sein. Jedenfalls zeigte das patristische Visier keine gelbe Aureole um seine Gestalt an.
    Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, das heilige Wasser zwischen den Linsen könnte seine Kraft verloren haben – durch die Nähe zum Gehirn und die sündigen Gedanken. Angeblich sollte so etwas vorkommen.
    Er blickte zum westlichen Ufer der Newa, das durch eine Lücke zwischen den Häusern zu sehen war. Da waren haufenweise tote Seelen, die keine Furcht erkennen ließen. Das patristische Visier funktionierte – um die winzigen Silhouetten herum waberte ein flackerndes, aber deutlich erkennbares gelbliches Leuchten. Dostojewski richtete den Blick wieder auf den bärtigen Mann im Morgenrock. Er hatte noch immer keine Aureole.
    »Nein«, erkannte Dostojewski, »das ist kein Zombie …«
    Der Bärtige wusste anscheinend, dass er beobachtet wurde – er schwenkte lächelnd den Arm. Dostojewski war sicher, dass weder er selbst noch das Blinken der Linse zwischen den rötlich braunen Tannenzweigen und den bunten Glaskugeln zu sehen waren. Und doch lächelte der Bärtige wieder und nickte, wie um zu bekräftigen, dass Dostojewski sich nicht getäuscht hatte.
    »Interessant«, dachte Dostojewski. »Kommt vom Westen und ist kein Zombie … Wer ist er dann? Vielleicht kommt unser Kundschafter zurück?«
    Das Dosimeter fing an zu quäken.
    Dostojewski nahm einen Schluck warmen Wodka und überlegte. Die Leichen der Zombies, die unter dem Graffito » SATANS LOCH « auf dem Fahrdamm lagen, waren schon fast in ihre Elemente zerfallen und hatten sich in mit Stofffetzen bedeckte Staubhäufchen verwandelt, aber sie waren noch zu sehen.
    »Nein, das ist bestimmt kein Zombie«, sagte er entschieden. »Die kommen frühestens gegen Abend raus, wenn die da drüben weggeweht sind … Aber spätestens, wenn der Wodka alle ist.«
    Dostojewski war schon länger etwas Merkwürdiges aufgefallen – eine neue Lieferung Schnaps kam immer genau dann, wenn die vorherige zu Ende ging. Und dies völlig unabhängig von der Menge des zuvor erbeuteten Wodkas, von der Zahl der zur Strecke gebrachten toten Seelen oder vom Strahlungspegel. Kaum drohte der Schnaps zu Ende zu gehen, stürmte eine mit Alkohol beladene Kompanie von Toten auf die Feuerstellung los. Der Starez Fjodor Kusmitsch meinte, das sei ein offensichtlicher Beweis für die Existenz Gottes. Ein weiterer Gottesbeweis waren für ihn die roten Benzinfässer, die unerklärlicherweise immer genau an den Stellen auftauchten, wo man mit einem einzigen Schuss eine ganze Gruppe Zombies niederbrennen konnte. (Wenn von diesen Fässern die Rede war, geriet Fjodor Kusmitsch immer in helle Aufregung: »In diesem Zeichen wirst du siegen!«, wiederholte er dann ganz aufgeregt, »In diesem Zeichen wirst du siegen!«) Dostojewski wusste nicht, wie es mit der Dogmatik stand, aber vom praktischen Standpunkt aus betrachtet hatte Fjodor Kusmitsch recht.
    Der bärtige Mann im Morgenrock kam also so gesehen völlig zur Unzeit – und doch kam er immer näher. Allem Anschein nach hatte er keine Waffe.
    »Was zum Teufel ist das heute nur für ein Tag?«, dachte Dostojewski. »Na ja. Gleich werden wir wissen, was da los ist …«
    Er nahm die Brille ab und legte sie auf eine spezielle Ablage an der Wand des Schützengrabens. Dann packte er eine Axt, kletterte gemächlich auf die Brustwehr, stieg über den Weihnachtsbaum hinweg und trat hinaus ins Freie.
    Der Unbekannte im Morgenrock winkte erneut und kam furchtlos auf ihn zu. Dostojewski stellte die Axt auf dem Fahrdamm ab, stützte sich auf den Griff und setzte eine undurchdringliche Miene auf. Der

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