Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
Meinung der besten Richter vernommen hätten.
Wir aber, die wir freien Zutritt hinter die Szene dieses großen Theaters der Natur haben (und nie sollte ein Autor irgend etwas schreiben, Wörterbücher und Buchstabiertäflein ausgenommen, der dieses Vorrecht nicht hat), wir können die Handlung nicht tadeln, ohne einen gänzlichen Abscheu gegen die Person zu fassen, welche die Natur vielleicht nicht bestimmt haben mag, in dramatischen Handlungen eine schlimme Rolle zu spielen. Denn in diesem Betracht gleicht das Leben ganz genau einer Schaubühne, wo es oft eben und dieselbe Person ist, welche einen Schurken und wieder einen Helden vorstellt, und er, der sich heute unsre Bewunderung erwirbt, wird sich vermutlich morgen unsre Verachtung zuziehen. So wie Garrick, den ich für das größte Genie unter allen tragischen Schauspielern halte, das jemals die Welt hervorgebracht hat, sich zuweilen herabläßt, die Rolle eines Narren zu spielen: so thaten schon vor vielen Jahren Scipio der Große und Lälius der Weise, wie Horaz erzählt, ja Cicero sagt sogar von ihnen, sie wären unglaublich kindisch gewesen. – Wahr ist's freilich, diese spielten, eben wie mein Freund Garrick, den Narren bloß im Spaß; aber verschiedene erhabne Personen haben bei unzähligen Vorfällen ihres Lebens in unermeßlichem Ernste den Narren vorgestellt und haben's damit so weit getrieben, daß sie es zu einer [294] zweifelhaften Sache gemacht, ob bei ihnen die Weisheit oder die Narrheit vorwalte, ob sie mehr Beifall oder Tadel, Bewunderung oder Verachtung, Liebe oder Haß beim menschlichen Geschlechte verdienten.
Solche Menschen, welche einige Zeit hinter der Szene dieses großen Theaters zugebracht haben und hinlänglich bekannt sind nicht nur mit den verschiedenen Verkleidungen, welche man daselbst anlegt, sondern auch mit dem eigensinnigen, phantastischen Betragen der Leidenschaften, welche die Direktoren und Unternehmer dieses Theaters sind, (denn die Vernunft als die eigentliche Prinzipalin desselben ist dafür bekannt, daß sie sehr weichlich ist und gerne müßig lebt und sich selten um die Direktion bekümmert), solche Menschen, sage ich, können höchst wahrscheinlicher Weise gelernt haben, Horazens berühmtes
nil admirari
richtig zu erklären, welches in unsrer Muttersprache ungefähr lauten möchte: »Worüber wundern wir uns denn?«
Eine einzige schlechte Handlung macht ebensowenig im Leben einen Schurken als eine einzige komische Rolle auf dem Theater einen Possenreißer. Die Leidenschaften zwingen oft, wie ein theatralischer Senat, einem Manne Rollen auf, ohne sein Urteil zu Rate zu ziehen, oder zuweilen auch nur die geringste Rücksicht auf seine Talente zu nehmen. Sonach kann der Mensch, so gut wie der Schauspieler, die Rolle verdammen, die er selbst spielt; ja, es ist nicht so ungewöhnlich, daß einige Menschen das Laster eben so unnatürlich kleidet als die Rolle des schändlichen Jago einen Schauspieler kleiden müßte, der ein offenes, redliches Gesicht hätte und es nicht verstände, es in die natürlichen Falten eines Schurken zu legen. Im ganzen also ist der unbefangene und wirklich verständige Mann niemals voreilig, etwas zu verdammen. Er kann eine Unvollkommenheit oder sogar ein Laster tadeln, ohne gegen die strafbare Person in Zorn und Wut zu geraten. Mit einem Worte, es sind eben die Thorheiten, eben die Kinderstreiche, eben die Ungezogenheiten und eben die Bosheiten, welche sowohl im menschlichen Leben, als auf der Bühne, all das Gelärme und all das Geschimpfe erregen. Die schlechtesten Menschen haben gemeiniglich die Worte: Schurke, Spitzbube und Schelm am meisten auf der Zunge; so wie die gemeinsten, elendesten Kerle im Parterre am fertigsten sind, auszurufen: gemein, niedrig!
[295] Zweites Kapitel.
Enthält eine Unterredung unsres Helden mit sich selbst.
Jones erhielt des Morgens früh aus Herrn Alwerths Hause seine Sachen mit folgender Antwort auf seinen Brief:
»Monsieur Jones!
Ich habe den Auftrag von meinem Herrn Onkel, Ihnen anzuzeigen, daß, so wie er zu den Maßregeln, die er in Ansehung Ihrer genommen hat, nicht ohne die größte Ueberlegung und ohne die völligste Ueberzeugung von Ihrer Unwürdigkeit geschritten ist, es auch niemals in Ihrer Gewalt stehen wird, in seinen Entschließungen die geringste Aenderung hervorzubringen. Mein Herr Onkel ist höchlich darüber verwundert, wie Sie sich erdreisten mögen zu sagen, Sie hätten alle Ansprüche auf eine junge Dame aufgegeben, auf
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