Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (German Edition)
Glanzes als der hellest polierte Marmor von Paros.
So war Sophiens Aeußeres beschaffen. Auch ward dieser schöne Bau von keinem unwürdigen Bewohner erniedrigt. Ihre Seele war in allem Betracht dem Körper gleich; ja der letztere entlieh noch Reize von der erstern, denn wenn sie lächelte, goß die sanfte Güte [127] ihres Herzens jenen strahlenden Schimmer über ihr Antlitz, den keine Regelmäßigkeit den Gesichtszügen zu geben im stande ist. Jedoch, da sie keine Tugendvollkommenheit besitzt, welche sich nicht in der vertrautesten Bekanntschaft, in die wir unsern Leser mit diesem liebenswürdigen jungen Geschöpfe zu bringen willens sind, von selbst entdecken werden, so ist es überflüssig solche hier aufzuzählen. Ja, es wäre sogar eine Art von Mißtrauen in den Verstand des Lesers und würde ihn des Vergnügens berauben, welches er dabei empfinden wird, wenn er sein eigenes Urteil über ihren Charakter fällt.
Es mag indessen nicht undienlich sein zu sagen: daß ihre Geistesgaben, so viele sie deren auch von der Natur empfangen hatte, doch einigermaßen durch die Kunst weiter ausgebildet waren; denn sie war unter der Aufsicht einer Tante erzogen, die viel Klugheit und eine vollkommene Weltkenntnis besaß, indem solche in der Jugend am Hofe gelebt, den sie aber seit etlichen Jahren verlassen und sich aufs Land begeben hatte. Durch den Umgang und Unterricht dieser Dame hatte Sophie vollkommene Lebensart gelernt, ob es ihr gleich vielleicht noch ein wenig an der Leichtigkeit des Betragens fehlte, welche sich bloß durch Gewohnheit erwerben läßt und dadurch, daß man fleißig und viel mit der sogenannten feinen Welt lebt. Doch wird diese, die Wahrheit zu sagen, oft ein wenig teuer erkauft; und ob sie gleich einen so unnennbaren Zauber hat, daß die Franzosen unter anderen Eigenschaften vermutlich auch diese mit auszudrücken meinen, wenn sie ihr
Ich weiß nicht was?
nennen: so wird doch ihr Abgang durch Unschuld sehr reichlich ersetzt. Auch kann eine gesunde Vernunft und natürliche Artigkeit derselben sehr wohl entbehren.
Drittes Kapitel.
In welchem die Geschichte rückwärts geht, um einen geringfügigen Umstand nachzuholen, der sich vor einigen Jahren zutrug; der aber, so unbedeutend er war, nachher einige Folgen hatte.
Die liebenswürdige Sophie war in ihrem achtzehnten Jahre, da sie in dieser Geschichte aufgeführt wird. Ihr Vater, wie schon gesagt ist, hatte sie lieber als irgend ein anderes menschliches Geschöpf. An sie wendete sich also Tom Jones, um ihre Fürsprache für seinen Freund, den Wildmeister, zu erbitten.
Doch, ehe wir zu diesem Geschäfte kommen, wird eine kurze Wiederholung einiger vorläufigen Materien nötig sein.
[128] Obgleich die Verschiedenheit der Charaktere des Herrn Western und Herrn Alwerth keine eben allzugenaue Freundschaft verstattete, so lebten sie doch, wie man's zu nennen pflegt, auf einem ganz freundschaftlichen Fuß. Vermöge dessen waren die jungen Leute aus beiden Familien von Jugend auf mit einander bekannt gewesen, und weil sie alle von ungefähr gleichem Alter waren, hatten sie auch oft mit einander ihre Kinderspiele getrieben.
Das muntre Wesen des Tom vertrug sich besser mit Sophie als die trockne, ernsthafte Gemütsart des jungen Herrn Blifil; und der Vorzug, den sie dem ersteren von ihnen gab, zeigte sich oft so deutlich, daß ein Jüngling von heftigerer Leidenschaft, als Neffe Blifil war, wohl sein Mißfallen darüber bezeigt haben möchte.
Da er unterdessen äußerlich kein solches Mißvergnügen äußerte, so wäre es von uns eben nicht freundschaftlich gehandelt, wenn wir in dem Geheimzimmer seines Herzens einen Besuch abstatten wollten, wie wohl einige hämische Leute die geheimsten Sachen ihrer Freunde durchsuchen und oft ihre Bücher und Silberschränke durchstänkern, bloß um ihre Armut und Kleinheit der Welt zu entdecken.
Weil gleichwohl Personen, welche vermuten, daß sie andern Ursache gegeben haben sich für beleidigt zu halten, leicht schließen, daß sie wirklich beleidigt sind: so schob Sophie eine Handlung des jungen Blifil auf seinen gereizten bösen Willen, die die höhern Einsichten Schwögers und Quadrats aus einem weit bessern Grundsatze herzuleiten im stande waren.
Tom Jones hatte, als er noch sehr jung war, Sophie einen kleinen Vogel geschenkt, den er aus dem Neste genommen, aufgefüttert und singen gelehrt hatte.
In diesen Vogel war Sophie, die damals ungefähr dreizehn Jahre alt sein mochte, so verliebt, daß es ihr
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