Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
Lebensmittelhändler, die Cecchis und sogar der alte Stevenson, der einsiedlerische Maler, der vor den Toren des Dorfes lebte und den Tom niemals persönlich kennengelernt hatte. Es kostete Tom mehrere Minuten, sie alle aufzuzählen, und McCarron würde es wahrscheinlich mehrere Tage kosten, sie alle aufzusuchen. Er gab alle an außer Signor Pucci, der den Verkauf von Dickies Haus und Schiff in die Hand genommen hatte und der McCarron zweifellos erzählen würde - falls McCarron das nicht schon von Marge erfahren hatte -, daß Tom Ripley nach Mongibello gekommen wäre, um Dickies Angelegenheit zu ordnen. Tom hielt es nicht für sehr gefährlich, so oder so, wenn McCarron wüßte, daß er sich um Dickies Angelegenheiten gekümmert hatte. Und was Leute wie Aldo oder Stevenson betraf, so konnte man McCarron nur beglückwünschen zu jedem Wort, das er aus ihnen herausbrächte.
»Irgend jemand in Neapel?« fragte McCarron.
»Nicht, daß ich wüßte.«
»Rom?«
»Ich bedaure, ich habe ihn in Rom nie in Begleitung von Freunden gesehen.«
»Haben Sie diesen Maler, diesen . . . äh . . . di Massimo kennengelernt?«
»Nein. Ich habe ihn einmal gesehen«, sagte Tom, »aber nie selber kennengelernt.«
»Wie sieht er aus?«
»Ach, wissen Sie, es war an einer Straßenecke. Ich ließ Dickie allein, als er sich mit ihm treffen wollte, ich bin also nicht sehr nahe an ihn herangekommen. Er war etwa einsfünfundsiebzig groß, etwa fünfzig Jahre alt, hatte grauschwarzes Haar . . . das ist ungefähr alles, was ich noch weiß. Er war recht kräftig gebaut. Er trug einen hellgrauen Anzug, fällt mir ein.«
»Hm-m. Gut, gut«, sagte McCarron abwesend, so als schriebe er das alles auf. »Schön, das wäre wohl vorerst alles. Vielen Dank, Mr. Ripley.«
»Gern geschehen. Viel Erfolg.«
Dann blieb Tom mehrere Tage lang still zu Hause sitzen und wartete, so wie es jeder tun würde, wenn die Suche nach einem vermißten Freund ihren Höhepunkt erreichte. Drei oder vier Einladungen zu Parties lehnte er ab. Das Interesse der Zeitungen am Verschwinden Dickies war wieder aufgeflammt, angefacht durch die Anwesenheit eines amerikanischen Privatdetektivs in Italien, den Dickies Vater angeheuert hatte. Als die Illustrierten ›Europeo‹ und ›Oggi‹ ihm ein paar Photographen schickten, die Bilder von ihm und seinem Hause machen wollten, wies er ihnen standhaft die Tür, einen besonders beharrlichen jungen Mann packte er sogar beim Ellenbogen und schob ihn quer durchs Wohnzimmer zur Tür. Aber sonst geschah fünf Tage lang nichts von Bedeutung - keine Anrufe, keine Briefe, auch nicht von Tenente Roverini. Manchmal nahm Tom schon das Schlimmste an, besonders wenn es dunkelte, dann fühlte er sich stets bedrückter als zu jeder anderen Tageszeit. Er stellte sich vor, wie Roverini und McCarron zusammenhockten und die Theorie entwickelten, Dickie könnte schon im November verschwunden sein, wie McCarron nachprüfte, wann Tom seinen Wagen gekauft hätte, wie er sich auf die Fährte setzte, wenn er herausgefunden hätte, daß Dickie von dem San Remo-Ausflug nicht zurückgekommen sei und daß statt seiner Tom Ripley in Mongibello aufgetaucht wäre, um dafür zu sorgen, daß Dickies Habe verkauft würde . . . Im Geiste drehte und wendete er Mr. Greenleafs müdes, indifferentes »Auf Wiedersehen!« an jenem letzten Vormittag in Venedig, legte es als unfreundlich aus und stellte sich vor, wie Mr. Greenleaf in Rom einen Wutanfall bekäme, wenn all die Bemühungen, Dickie zu finden, ergebnislos blieben, und wie er dann plötzlich eine gründliche Untersuchung gegen Tom Ripley forderte, diesen Halunken, den er mit seinem eigenen Gelde herübergeschickt hätte, damit er versuchte, seinen Sohn heimzuholen.
Am Morgen war Tom aber stets wieder optimistisch gestimmt. Auf der Habenseite stand die Tatsache, daß Marge fraglos glaubte, Dickie hätte diese Monate schmollend in Rom verbracht, und ganz bestimmt hatte sie seine sämtlichen Briefe aufbewahrt und würde sie auch alle hervorholen, um sie McCarron zu zeigen. Es waren außerdem hervorragende Briefe. Jetzt war Tom heilfroh, daß er so viele Gedanken darauf verschwendet hatte. Marge war eher ein Aktivum als ein Passivum. Es war wirklich eine gute Sache, daß er in jener Nacht, als sie die Ringe fand, seinen Schuh wieder hingelegt hatte.
Jeden Morgen beobachtete er vom Schlafzimmerfenster aus, wie die Sonne sich über die winterlichen Nebel erhob, sich emporkämpfte über die friedlich schlummernde Stadt,
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