Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
hatte es nicht gewagt, in der kurzen Zeit von drei Monaten noch mehr abzuheben. Allein schon die Aussicht, an Dickies gesamtes Geld heranzukommen, und das damit verbundene Risiko waren unwiderstehlich für ihn. Er langweilte sich entsetzlich nach all den trüben, ereignislosen Wochen in Venedig, wo jeder Tag, der vorüberging, seine persönliche Sicherheit zu bestätigen und die Leere seines Daseins zu unterstreichen schien. Roverini schrieb ihm nicht mehr. Alvin McCarron war nach Amerika zurückgekehrt (nachdem Tom nichts weiter von ihm gehört hatte als noch einen völlig belanglosen Anruf), und Tom nahm an, daß McCarron und Mr. Greenleaf zu dem Schluß gekommen waren, Dickie sei entweder nicht mehr am Leben oder aus eigenem Willen untergetaucht und weitere Nachforschungen wären zwecklos. Die Presse hatte aufgehört, ihren Bedarf an Neuigkeiten über Dickie zu decken. Tom hatte ein Gefühl der Leere und der Ungewißheit, das ihn beinahe zum Wahnsinn trieb, bis er dann die Autofahrt nach München machte. Als er nach Venedig zurückkehrte, um die Koffer für Griechenland zu packen, war ihm noch schlimmer zumute: er war dabei, nach Griechenland zu fahren, zu den Heldeninseln des Altertums, er, der kleine Tom Ripley, scheu und bescheiden, mit schrumpfenden Zweitausend auf dem Konto, so daß er praktisch jeden Pfennig zweimal umdrehen müßte, bevor er sich auch nur ein Buch über griechische Kunst kaufte. Es war unerträglich.
Er hatte in Venedig beschlossen, seine Griechenlandreise zu einer heroischen Reise zu machen. Er würde die Inseln sehen, die zum ersten Male in sein Blickfeld schwammen, er würde sie sehen als eine lebendige, atmende, mutige Persönlichkeit - nicht als ein katzbuckelnder kleiner Niemand aus Boston. Und wenn er auch am Piräus direkt in die Arme der Polizei segeln würde, so hätte er doch wenigstens die Tage zuvor erlebt, am Bug eines Schiffes im Winde stehend und wie Jason oder Ulysses auf der Heimreise über das weindunkle Meer kreuzend. Also hatte er den Brief an Mr. Greenleaf geschrieben und ihn drei Tage vor seiner Abreise aus Venedig in den Kasten gesteckt. Vor Ablauf von vier oder fünf Tagen würde Mr. Greenleaf den Brief sicherlich nicht erhalten, es würde Mr. Greenleaf also keine Zeit mehr bleiben, ihn mit einem Telegramm in Venedig festzuhalten und ihn sein Schiff verpassen zu lassen. Außerdem sah es in jeder Beziehung besser aus, wenn er leger an die Sache heranging, wenn er jetzt zwei Wochen lang, bis zu seiner Ankunft in Griechenland, nicht erreichbar wäre, gerade als kümmerte es ihn so wenig, ob er das Geld bekam oder nicht, daß dieses Testament für ihn kein Grund war, auch nur eine kleine Reise, die er plante, zu verschieben.
Zwei Tage vor seiner Abreise war er bei Titi della Latta-Cacciaguerra zum Tee eingeladen, bei der Contessa, die er am ersten Tage seiner Haussuche in Venedig kennengelernt hatte. Das Mädchen führte ihn ins Wohnzimmer, und Titi begrüßte ihn mit einem Satz, den er seit vielen Wochen nicht mehr gehört hatte: »Ah, ciao, Tomaso! Haben Sie die Mittagszeitungen gesehen? Man hat Dickies Koffer gefunden! Und seine Bilder! Hier bei uns, im American Expreß in Venedig!« Ihre goldenen Ohrringe zitterten vor Erregung. »Was?« Tom hatte noch keine Zeitung gelesen. Er war zu beschäftigt gewesen mit Packen.
»Hier! Lesen Sie selbst! Alle seine Sachen, erst im Februar deponiert! Sie sind von Neapel aus hergeschickt worden. Vielleicht ist er hier in Venedig!«
Tom las es. Die Schnur, mit der die Gemälde zusammengebunden waren, hatte sich gelöst, schrieb die Zeitung, und als ein Angestellter sie wieder zusammenbinden wollte, hatte er auf den Bildern das Signum R. Greenleaf entdeckt. Toms Hände fingen an zu zittern, er mußte die Zeitung fest an den Rändern packen, um sie ruhig zu halten. Das Blatt schrieb, daß die Polizei jetzt alles sorgfältig nach Fingerabdrücken untersuche.
»Vielleicht lebt er noch!« schrie Titi.
»Ich glaube nicht . . ., ich sehe nicht ein, wieso das beweisen soll, daß er noch lebt. Er könnte ja ermordet worden sein oder sich selbst das Leben genommen haben, nachdem er die Koffer hergeschickt hatte. Die Tatsache, daß sie unter einem anderen Namen laufen - Fanshaw . . .« Er hatte das Empfinden, daß die Contessa, die steif auf dem Sofa saß und ihn anstarrte, ganz betroffen war über seine Nervosität, deswegen riß er sich abrupt zusammen, sammelte all seinen Mut und sagte: »Sehen Sie! Sie suchen alles nach
Weitere Kostenlose Bücher