Tom Ripley 01 - Der talentierte Mr Ripley
gefunden worden waren. Tom verbrachte eine schlaflose Nacht und den darauffolgenden Tag mit ruhelosem Hin- und Hergelaufe, während er sich bemühte, die unendlich vielen kleinen Dinge zu erledigen, die seine Reise mit sich brachte, er bezahlte Anna und Ugo, bezahlte die verschiedensten Händler. Tom war Tag und Nacht jederzeit darauf gefaßt, daß die Polizei an seine Tür klopfte. Der Gegensatz zwischen seinem heiter gelassenen Selbstvertrauen von vor fünf Tagen und seiner gegenwärtigen Angst riß ihn beinahe in Stücke. Er konnte weder schlafen noch essen noch stillsitzen. Die Ironie, von Anna und Ugo bemitleidet zu werden, von seinen Bekannten angerufen und gefragt zu werden, ob er denn wüßte, was in der Angelegenheit der aufgefundenen Koffer geschehen wäre, schien mehr, als er ertragen konnte. Welche Ironie auch, daß er ihnen ruhig zeigen durfte, wie aufgeregt er war, wie pessimistisch, ja verzweifelt, und sie dachten sich gar nichts dabei. Sie hielten es für völlig normal, denn schließlich konnte Dickie ja ermordet worden sein: jeder betrachtete es als äußerst bedeutsam, daß sich Dickies gesamte Habe bis hin zum Kamm und Rasierzeug in den Koffern von Venedig befand.
Und dann war da noch die Sache mit dem Testament. Übermorgen würde Mr. Greenleaf es bekommen. Bis dahin wüßten sie vielleicht schon, daß die Fingerabdrücke nicht von Dickie stammten. Bis dahin hätten sie vielleicht schon die »Hellenes« abgefangen und ihm die Fingerabdrücke abgenommen. Auch wenn sie entdeckten, daß das Testament gefälscht war, würden sie kein Pardon mit ihm haben. Dann würden die Morde herauskommen, das war so selbstverständlich wie das Einmaleins.
Als er schließlich an Bord der »Hellenes« ging, fühlte sich Tom wie ein wandelnder Geist. Er war übermüdet, ausgemergelt, bis oben hin voller Espressos, nur seine zuckenden Nerven trieben ihn noch vorwärts. Er wollte fragen, ob das Schiff ein Funkgerät hatte, aber es war ja klar, natürlich hatte es ein Funkgerät. Es war ein ziemlich großes Schiff mit drei Decks und achtundvierzig Passagieren. Etwa fünf Minuten nachdem der Steward ihm sein Gepäck in die Kabine gebracht hatte, brach er zusammen. Er merkte, daß er mit dem Gesicht nach unten auf seiner Koje lag, ein Arm lag verrenkt unter ihm, aber er war zu müde, um sich anders hinzulegen, und als er erwachte, bewegte sich das Schiff, es bewegte sich nicht nur, sondern es schlingerte sanft in einem angenehmen Rhythmus, der auf enorme Kraftreserven schließen ließ und wie ein Versprechen auf unendliche, unaufhaltsame Vorwärtsbewegung war, die alles beiseitefegen würde, was sich ihr in den Weg stellte. Er fühlte sich besser, nur der Arm, auf dem er gelegen hatte, hing schlaff neben ihm herab wie ein lebloses Etwas und bumste gegen seinen Körper, als er durch den Korridor ging, so daß er ihn mit der anderen Hand packen und festhalten mußte. Seine Uhr zeigte Viertel nach neun, und draußen war es völlig finster.
Dort ganz links war irgendein Stück Land zu erkennen, wahrscheinlich ein Stück von Jugoslawien, fünf oder sechs kleine trübweiße Lichter, und ansonsten nichts als schwarzes Meer und schwarzer Himmel, so schwarz, daß von Horizont keine Spur war, sie hätten auch gegen eine schwarze Wand fahren können, nur daß er keinerlei Widerstand spürte gegen das stetig voranpflügende Schiff, und frei strich der Wind um seine Stirn, als käme er aus unendlichen Weiten. Er sah ringsherum niemanden auf Deck. Sie waren alle unten und verzehrten ihr spätes Abendessen, nahm er an. Er war froh, allein zu sein. Das Leben kehrte in seinen Arm zurück. Er hielt sich am Geländer fest, ganz vorn, wo es zu einem spitzen V zusammenlief, und nahm einen tiefen Atemzug. Ein trotziger Mut wuchs in ihm empor. Wenn nun der Funker jetzt, in eben dieser Minute, den Funkspruch empfing, Tom Ripley sei zu verhaften? Was dann? Er würde genauso tapfer und aufrecht dastehen, wie er jetzt dastand. Oder er könnte sich über die Reling stürzen - was für ihn der äußerste Mutbeweis sein würde, ebenso gut wie Flucht. Na, was dann, wenn? Sogar bis hierher, wo er stand, war schwach das »Biep-biep-biep« aus dem Funkraum oben auf der Brücke zu hören. Er fürchtete sich nicht. Das war es. Das war genau das Gefühl, das er zu empfinden gehofft hatte, wenn er nach Griechenland fuhr. Hinauszublicken auf das schwarze Wasser ringsumher und sich nicht zu fürchten, das war beinahe ebenso schön wie der Anblick der näher
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