Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
diese Mädchen – sie sind nur Körper für ihn, ob tot oder lebendig. Er führt an ihnen nur ein Verfahren durch, und ich glaube, dass er ihnen die Schuld gibt, wenn es nicht klappt. Es wird keine richtige Gewalt ausgeübt, aber er ist wütend.«
»Wenn er es so eilig hat, sie loszuwerden, warum wäscht er sie dann so gründlich?«
»Ich weiß nicht. Es ist … medizinisch.«
»Vielleicht desinfiziert sich der Mistkerl sogar vorher die Hände«, schnaubte Keable.
»Jedenfalls kommt uns diese Entwicklung entgegen, Tom. Wenn er ungeduldig oder leichtsinnig wird, ist es viel wahrscheinlicher, dass er einen Fehler macht und uns das gibt, was wir brauchen, um ihn zu schnappen.«
»Oder er tötet einfach schneller. Es sind zweiundzwanzig Tage vergangen, seit Alison Willetts überfallen wurde. Susan Carlish war sechs Wochen davor an der Reihe …«
Keable strich sich über den Kopf. »Ich weiß, Tom.« Es war ein Hinweis auf seine Tüchtigkeit und Kompetenz, doch Thorne sah darin etwas anderes: einen leisen Befehl, sich zu beruhigen. Eine Warnung. Schon oft hatte er einen flüchtigen Blick erhaschen können, was sich hinter einer freundlichen Frage oder einem besorgten Blick in Wirklichkeit verbarg. Besonders häufig hatte er ihn gesehen, wenn es einen Verdächtigen gab. Irgendeinen. Dieser Blick brannte in seiner Seele, aber er verstand ihn. Der Fall Calvert war Teil einer gemeinsamen Geschichte. Eine Schuld, die sie in irgendeiner Weise alle geerbt hatten. Doch er hatte in dieser Geschichte mitgespielt, nicht die anderen. Er war mittendrin gewesen.
Keable drehte sich um und ging zum Fahrstuhl. Ein Wagen würde unten warten und ihn zu seinem Treffen fahren. Er drückte den Knopf und wandte sich wieder in Thornes Richtung. »Geben Sie mir Bescheid, sobald sich Hendricks meldet.«
Thorne blickte Keable hinterher, als er in den Fahrstuhl stieg, und beide überbrückten die fünfzehn Sekunden, bis die Türen sich schlossen, mit einem Achselzucken. Keable würde dem Chief Superintendent erzählen, dass die Möglichkeit für einen Durchbruch bestand, während sie auf die Testergebnisse warteten. Jemand musste gesehen haben, wie der Mörder das Mädchen aufgegabelt hatte.
Thorne fragte sich, ob sie das Thema anschneiden würden, das in der Luft schwebte, seit er den Brief an seinem Auto gefunden hatte. Es könnte bedeuten: »Kommt und holt mich.« Der Mörder gab sich jedenfalls keine Mühe mehr, zu verbergen, was er tat, weil er wusste, dass man hinter ihm her war. Wenn die Tatsache, dass die Polizei die Zusammenhänge erkannt hatte, den Mörder unvorsichtig werden ließ, war Thorne froh darüber. Worüber er sich wirklich Gedanken machte, war die Art, wie er es tat.
Warum, verdammt noch mal, kriegen sie die Sache nicht in den Griff? Sie können einer Maus ein menschliches Ohr ankleben und ein dämliches Schaf klonen. Schafe klonen! Was Sinnloseres gibt’s nicht. Sie schaffen es, blöde Schafe zu klonen, die sowieso schon alle gleich aussehen!
Eigentlich ist alles in Ordnung.
Ein Schlaganfall. Das hört sich so beruhigend an, richtig nett. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich von irgendwas geschlagen wurde – ich bin mit einem Presslufthammer bearbeitet worden. Meine Oma hatte einen Schlaganfall, aber sie konnte hinterher wieder sprechen. Sie hat ein bisschen genuschelt, und die Medikamente haben sie etwas wirr im Kopf gemacht. Bis dahin hatte sie nur so … na ja, Alte-Leute-Geschichten erzählt. Das ging nie so weit, dass sie Fremden an der Bushaltestelle ihr Alter verraten hätte, aber so in der Art. Doch die Medikamente verwandelten sie in eine Art geriatrischer Performance-Dichterin. Sie lag da und tobte wegen der Motorräder, die nachts durch ihr Zimmer brausten, oder wegen der Krankenpfleger, die alle mit ihr Sex haben wollten. Um ehrlich zu sein, es war reine Hysterie – schließlich war sie sechsundachtzig! Aber wenigstens konnte sie sich verständlich machen. Anne hat mir erzählt, was dieser Mann mir angetan hat. Irgendeine Arterie abgedreht und mir einen Gehirnschlag verpasst. Warum können sie sie nicht einfach zurückdrehen? Es muss da doch Spezialisten oder so was geben. Ich liege hier und rufe und schreie, und die Schwestern laufen vorbei und gucken mich an, als würde ich hier faul ein Mittagsschläfchen in der Sonne halten. Es wurden wohl schon alle Tests gemacht. Also müssen die Ärzte wissen, dass ich immer noch hier drin bin, immer noch mit mir rede, tobe und fantasiere. Das macht mein
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