Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
sie über ihre Tochter nach.
In letzter Zeit waren sie nicht besonders gut miteinander ausgekommen. Die Abschlussprüfungen hatten sie beide zu sehr unter Stress gesetzt. Rachel ließ, nachdem sie sich derart abgerackert hatte, nur etwas Dampf ab, das war alles. Anne hatte sich entschlossen, ihr nach Bekanntgabe der Ergebnisse ein Geschenk zu kaufen – als Anerkennung für die harte Arbeit. Einen neuen Computer vielleicht. Jetzt überlegte sie stattdessen, ihn schon vorher zu kaufen.
Dann dachte sie an Tom Thorne.
Sie blickte zu den Blumen, die er mitgebracht hatte, und lächelte, als sie sich erinnerte, wie er sich bei Alison dafür entschuldigt hatte, dass er … was für ein Wort hatte er verwendet? Genau, dass er gemüffelt hatte. Es war nicht schwer, ihn attraktiv zu finden. Vielleicht hatte sie ein paar Jahre mehr auf dem Buckel als er, aber instinktiv wusste sie, dass er nicht der Typ war, der sich darüber Gedanken machte. Er war stämmig. Nein … stabil. Er sah aus, als sei er schon oft um die Häuser gezogen, und entsprach dem Typ Mann, von dem sie sich seit dem Zeitpunkt angezogen fühlte, ab dem die Geschichte mit David den Bach runterging – und das hatte schon vor vielen Jahren angefangen, wenn sie ehrlich war.
Es war komisch, dass Thorne auf der linken Seite mehr graue Haare hatte als rechts. Außerdem hatte sie braune Augen schon immer gemocht.
Anne war sich plötzlich bewusst, dass sie ihre Gedanken laut aussprach. Die nächtlichen Gespräche mit Alison wurden zur Routine. Die Krankenschwestern waren es gewohnt, sie mitten in der Nacht plappernd anzutreffen. Mit der Zeit hatte sie sich immer mehr darauf gefreut, mit Alison zu reden. Die Beschäftigung mit Alisons Gehirn war wesentlicher Bestandteil der Behandlung, doch für Anne war es auch eine therapeutische Angelegenheit. Es war seltsam und aufregend, das eigene Seelenleben auszubreiten, ohne … beurteilt zu werden. Es war eine Art Beichte. Nun, vielleicht wurde sie von Alison ja doch beurteilt. Möglicherweise dachte sie: »Vergiss den mürrischen Bullen! Angle dir einen jungen, knackigen Medizinstudenten!«
Eines Tages würde Anne genau herausfinden, was Alison dachte. Doch in diesem Moment wurde sie vom Summen der Maschinen ganz schläfrig. Sie erhob sich, griff zu einem Fläschchen und drückte vorsichtig die Befeuchtungstropfen in Alisons Augen. Dann zog sie ihre Jacke aus, knäulte sie zusammen und legte sie unter ihren Kopf, als sie sich wieder setzte. Mit geschlossenen Augen wünschte sie Alison eine gute Nacht und war sofort eingeschlafen.
Um halb acht am nächsten Morgen war die Leiche offiziell identifiziert. Helen Doyles Eltern hatten etwa zum selben Zeitpunkt gemeldet, dass ihre Tochter nicht nach Hause gekommen sei, als George Hammond zusah, wie sie über das Geländer in Queens Wood purzelte. Wenige Stunden nach diesem ersten besorgten Anruf lehnte Thorne an einer Wand und sah ihnen hinterher, wie sie langsam den Flur entlanggingen und das Leichenschauhaus verließen. Michael Doyle schluchzte. Seine Frau Eileen blickte starr geradeaus und drückte den Arm ihres Mannes. Sie gingen über die Steinstufen hinunter ins Freie, wo sie von dem strahlenden, frischen und völlig gewöhnlichen Morgen ihres ersten Tages ohne Tochter begrüßt wurden.
Jetzt lehnte Thorne an einer anderen Wand. Die tote Helen hatte ihren Platz neben den anderen eingenommen. Sie hatte noch nichts gesagt, aber das war nur eine Frage der Zeit. Etwa vierzig Beamte und weitere Hilfskräfte warteten darauf, dass Thorne zu ihnen sprach. Wie immer fühlte er sich wie der schlecht gekleidete stellvertretende Direktor einer heruntergekommenen Gesamtschule. Seine Zuhörer erzählten sich langweilige Witze oder machten zotige Bemerkungen. Die wenigen Frauen im Team saßen beisammen und ließen den Sexismus ihrer Kollegen an sich abprallen. Die Rauchschwaden von mehr als einem Dutzend Zigaretten sammelten sich unterhalb der Deckenbeleuchtung. Thorne hatte das Gefühl, als würde er noch immer ein Päckchen Zigaretten am Tag rauchen.
»Die Leiche von Helen Doyle wurde heute Morgen kurz nach halb zwei in Queens Wood in Highgate entdeckt. Sie wurde das letzte Mal gesehen, als sie das Marlborough Arms auf der Holloway Road um dreiundzwanzig Uhr fünfzehn verließ. Die Autopsie wird heute Vormittag durchgeführt, aber bis jetzt gehen wir von der Annahme aus, dass sie von demselben Mann getötet wurde, der für den Tod von Christine Owen, Madeleine Vickery und
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