Tom Thorne 01 - Der Kuß des Sandmanns
sie während der Dreiviertelstunde vom Queen Square zum Muswell Hill so darin versunken, dass sie vor dem Haus noch im Wagen sitzen blieb und das Ende abwartete.
An diesem Abend ließ sie das Radio ausgeschaltet. Es gab viel, worüber sie nachdenken musste.
An diesem Morgen hatte sie in Alisons Zimmer das Foto von Jeremy gefunden. Wahrscheinlich hatte es eine Krankenschwester auf den kleinen Tisch in der Ecke gelegt. Ihr war klar, was Thorne am Tag zuvor in Alisons Zimmer getan hatte, während sie Kaffee geholt hatte, doch sie mochte sich nicht vorstellen, was es bedeutete. Natürlich wusste sie, was es bedeuten könnte. Es konnte kaum etwas bedeuten, aber sie schaffte es nicht, die Sache als das zu nehmen, was sie war.
Nicht im Moment jedenfalls.
Gefühle für zwei Männer. Bei dem einen Mann hatten sie sich im Laufe der Zeit verändert. Bei dem anderen war dies über Nacht geschehen.
Ihre Beziehung zu Jeremy war seit Sarahs Tod eine andere geworden. Sie hatten immer alles geteilt, was der Grund für all die Spannungen zwischen ihr und David gewesen war, aber seit dem Unfall war Jeremy auf Distanz gegangen. Seine Zurückhaltung konnte amüsant sein, ging ihr aber mittlerweile auf die Nerven. Und in letzter Zeit war er arrogant geworden, arroganter als früher, und hin und wieder sogar unangenehm. Die Arbeit schien ihn zu zermürben. Er würde immer ein fester Bestandteil ihres Lebens sein, das wusste sie, ebenso wie die Kinder, aber es lag keine Freude mehr in ihrer Beziehung. Sie empfand sie wie eine Pflicht.
Aber das, was Thorne offenbar dachte, war schockierend und unvorstellbar.
Sie fuhr die Camden High Street entlang und war nur noch fünf Minuten von ihrer Wohnung entfernt.
Hätte sie das Foto zwölf Stunden früher gefunden, hätte sie ihn damit konfrontiert. Sie hätte Antworten auf Fragen verlangt, die sie jetzt nicht mehr stellen konnte. Und sie hätte nicht mit ihm geschlafen. Hätte es nicht dürfen. Der Sex hatte alles verändert. Sie wusste, dass es eine furchtbar altmodische Sichtweise war, aber so dachte sie nun mal. Das hatte sie schon immer getan, und es hatte sie zu viele unglückliche Jahre gekostet.
Jetzt musste sie eine Seite des Mannes ignorieren, mit dem sie das Bett teilte. Diese Seite schien alles zu bedrohen. Ihre Gefühle für Thorne ließen ihr wenig Möglichkeiten, und diejenigen, die sie Jeremy gegenüber verlor, könnten es ihr einfacher machen. Im Moment konnte sie nicht über eine Zukunft mit Thorne nachdenken; sie musste sich mit dem Schaden auseinander setzen, den er offenbar ihrer Vergangenheit zufügen wollte. Doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich sehr wohl auf eine Zukunft mit ihm einlassen könnte, egal, wie kurz sie sein würde.
Sie würde sich die Finger in die Ohren stecken und schreien. Sie hatte keine Wahl.
Sie dachte über Alison nach, die von allem so weit entfernt war. Mehr als alles andere wollte sie diese Frau zurückholen. Aber angesichts der Angst, des Hasses und des Misstrauens, die alles überschatteten, fragte sie sich, ob Alison dort, wo sie war, nicht besser aufgehoben sein könnte.
Sie schaltete das Radio an. Es gab nichts Interessantes, aber sie war ohnehin schon fast zu Hause.
Das Badewasser wurde langsam kalt.
Thorne setzte sich auf und blickte auf seine Uhr, die neben dem Mobiltelefon auf dem Klodeckel lag. Fast ein Uhr morgens.
Er war völlig regungslos mit dem Kopf unter Wasser in der Wanne gelegen. Seine Augen waren geöffnet gewesen, und er hatte an die Decke gestarrt, die über ihm geschwommen war. Er hatte darauf gewartet, dass das Wasser um ihn herum zu treiben aufhörte, und er wollte testen, wie lange er die Luft anhalten konnte. Das hatte er als Kind in dem dampfenden Wasser im alten, hallenden Badezimmer oft gespielt – er hatte so getan, als sei er tot. Er hatte damit an dem Abend aufgehört, als seine Großmutter hereingekommen war, ihn gesehen hatte und schier durchgedreht war. Er hatte sich in der Sekunde kerzengerade aufgesetzt, als sie geschrien hatte. Ihren Blick würde er nie vergessen.
Es war ein Blick, den er seitdem oft gesehen hatte.
Gewöhnlich trank er ein Glas Wein in der Badewanne, doch an diesem Abend hatte er keine Lust darauf. Nicht dass er aufgehört hatte zu trinken. Das hatte er schon zu oft versucht, aber stets für sich herausgefunden, dass das Leben ohnehin schon schlimm genug war. Er dachte nur, dass er besser jetzt nichts trinken sollte.
Nicht an einem Dienstagabend.
Er hatte in vielerlei
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