Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
diese Frage gestellt hatten, wie er sie sich selbst in den letzten Tagen an die hundert Mal gestellt hatte. Die Antwort, die er erhielt, war so ziemlich die beste, mit der man aufwarten konnte.
»Er spielt ein Spiel. Führt uns an der Nase herum.«
»Führt mich an der Nase herum. Ich habe die Schule aufgesucht. Mich muss er beobachtet haben …«
Brigstocke beugte sich vor, um Asche in einen riesigen Plastikaschenbecher zu schnippen. Er schüttelte den Kopf. »Er ist ein raffinierter Mistkerl, das ist alles. Er will, dass wir genau das machen – uns mit diesen Fragen herumschlagen.«
Achselzuckend griff Thorne nach seinem Pint und betrachtete es. Er wurde das Gefühl nicht los, dass Nicklin ihm durch den Mord an Ken Bowles, an jemandem, mit dem er gesprochen hatte, eine Art Nachricht schicken wollte. Dabei war er sich nicht sicher, ob dieser Gedanke seinem Instinkt entsprang oder seiner Eitelkeit. Das hatte er schon des Öfteren verwechselt.
Er leerte sein Glas und stellte es ab. Er wusste nicht, ob er hier sitzen bleiben und ein Bier nach dem anderen hinunterschütten wollte, bis er nichts mehr spürte, oder ob er sich danach sehnte, nach Hause zu gehen und die Tür hinter sich zuzumachen. »Gehen Sie mit der Palmer-Sache an die Presse?«
»Das ist noch nicht entschieden. Jesmond und ein paar weiter oben besprechen sich deshalb mit der Presseabteilung. In gewisser Weise wäre der Zug nicht schlecht – Mörder verhaftet. Täte uns allen gut, so schnell nach …« Er machte eine angemessene Pause, und Thorne sprach den Satz im Kopf zu Ende.
… dem Mord an Ken Bowles, der meine Schuld ist.
»Es ist schwer, wenn wir nicht eingestehen wollen, welchen Bockmist wir gebaut waren.«
»Danke für das wir«, bemerkte Thorne sarkastisch.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe wegen Bowles, Tom.«
»Warum nicht?«
Brigstocke blinzelte und griff nach seinem Bier. Er hatte darauf keine Antwort. Thorne stellte die einzige angemessene Frage. »Noch ein Bier?«
Brigstocke leerte sein Glas und schüttelte den Kopf. Thorne fasste nach hinten und holte seine Jacke. Es sah aus, als würde er nach Hause gehen.
»Sie sind den schwarzen Peter aus demselben Grund los, aus dem man ihn Ihnen zugeschoben hat«, erklärte Brigstocke. Thorne hob fragend die Augenbrauen. »Angst. Sie hatten Angst, sich zu irren, Angst, den Karren an die Wand zu fahren. Jetzt haben sie Angst, dabei ertappt zu werden, den Karren an die Wand gefahren zu haben, was tausendmal schlimmer ist.«
Thorne stand auf und schlüpfte in die Jacke. Brigstocke blieb sitzen, seine Zigarre war inzwischen bis auf den letzten Rest heruntergebrannt. »Sie haben auch allen Grund, Angst zu haben. Ich werde die Verantwortung auf mich nehmen.«
Brigstocke drückte seinen Zigarrenstummel aus. »Ach ; machen Sie sich deswegen keine Gedanken, das ist schon geschehen.«
Sie brachen beide in Lachen aus, etwas lauter und länger, als notwendig gewesen wäre. »Wie war das gleich wieder mit dem schwarzen Peter?«
»Den sind Sie los«, sagte Brigstocke. »Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis Sie ihn wiederhaben »Aufschub der Hinrichtung.«
Brigstocke lächelte, er hatte die Anspielung nicht verstanden. Thorne überlegte bereits, wie viel Bier er wohl noch brauchte. Wie viel er noch brauchte, bevor er sich in sein Bettzeug wickeln und in die Dunkelheit kriechen konnte, ohne Ken Bowles sehen zu müssen, mit offenen Augen in der Blutlache liegend, die Hände in den Teppich gekrallt, ein paar Fetzen seines eigenen Kleinhirns unter den Fingernägeln.
Ohne Martin Palmer vor sich zu sehen, riesig und an die weiße Zellenwand gelehnt.
Als die Werbung kam – billige Jingles für Rentenpläne und unnütze Versicherungen –, stand er auf, um sich Tee zu machen. Die Sendung war heute Abend ohnehin nicht sonderlich interessant, was eine Schande war. Auf die Anrufe hatte er sich mehr als sonst gefreut.
Er hatte einen üblen Tag hinter sich. Momentan war viel los: jede Menge Arbeit, wovon er, wie üblich, den Löwenanteil erledigte. Seine eigene Schuld, wenn er ehrlich war. Er hatte eine zwanghafte Ader. Während er sich über die Arbeitslast beschwerte, traute er gleichzeitig keinem anderen, sie so effizient zu erledigen wie er. Also machte er lieber alles selber.
Eigentlich war er sogar froh darüber, mehr tun zu müssen. Die letzten Tage hatte er etwas gebraucht, worauf er sich konzentrieren konnte. Er hatte Schwierigkeiten gehabt, sich anzupassen, sich an die veränderten
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