Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
Papier gepolstert.« Thorne knurrte. Das hatte er völlig vergessen. »Worum ging’s denn überhaupt?«, fragte Holland. »Ich konnte es nebenan hören.«
Thorne erhob sich und ging zu Holland, der noch immer in der Tür stand. »Ich hab genauso viel Ahnung wie Sie. Doch irgendeine Laus ist ihm über die Leber gelaufen …«
Die beiden sahen zu, wie Norman stehen blieb, um mit Sarah McEvoy zu sprechen. Er lächelte, gestikulierte mit den Händen. Sie erwiderte sein Lächeln, trat dicht zu ihm, berührte ihn kurz mit der Hand an der Schulter. Ihr Blick schoss zu Thorne und Holland. Eine halbe Sekunde später studierte sie den Boden zu ihren Füßen.
Holland ging ins Büro. Thorne folgte ihm.
»Ach, wegen neulich früh am Telefon, das tut mir Leid«, erklärte Holland. »Sie fragten nach McEvoy, wie es ihr gehe oder so was in der Richtung, und ich war etwas muffig. Hab nicht viel geschlafen …«
Thorne hatte sich schon gefragt, ob Holland wohl darauf zu sprechen kommen würde. Diese Reaktion hatte so gar nicht zu ihm gepasst. Achselzuckend entgegnete er: »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden.«
Holland atmete tief durch. Als sei ihm eine Last von den Schultern genommen. »Norman hat’s also auf Sie abgesehen?«
»Scheint so«, antwortete Thorne. »Wüsste nur gerne, warum. Das Schlimmste daran ist, ich kann’s ihm nicht verübeln. Mit dem meisten, was er sagte, traf er den Nagel auf den Kopf.«
Holland öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Thorne ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Er ist ein kleiner Wichser, verstehen Sie mich nicht falsch, aber er weiß, wovon er spricht.«
»Deswegen braucht er nicht persönlich zu werden, oder?«
Thorne setzte sich. »Er ist nicht groß, verstehen Sie? Das macht einem schwer zu schaffen. Komplexe.« Holland sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an, ein Grinsen drohte sich breit zu machen. Worauf Thorne schmunzelnd erklärte: »Er ist kleiner als ich, okay? Ich bin Durchschnittsgröße …«
Holland hob die Hände. »Ich sag ja nichts. Und was ist nun mit den Komplexen?«
Thorne überlegte kurz und lächelte, als sei ihm plötzlich ein alter Freund eingefallen.
»Ich? Ich hab mehr zu schultern als Harry Ramsden mit seinen ganzen Fish-and-Chips-Buden, Dave.«
Holland brach in schallendes Gelächter aus, und in diesem Augenblick wäre Thorne ungemein glücklich gewesen, hätte er nur die Augen schließen und den ganzen Tag dieses Geräusch hören können. Nichts wäre schöner, als die Tür zuzumachen und nur hier zu sitzen und darauf zu warten, dass es draußen dunkel wurde. Dass die Nacht heraufzog und ihn einhüllte. In seinem Büro zu sitzen und Tee zu trinken und mit Holland zu plaudern: über Sophie, seinen letzten Urlaub und Tottenhams absurde Jagd nach einem Platz in Europa und darüber, welche Filme er in letzter Zeit gesehen hatte und wie grauenvoll sie beide die öffentlichen Verkehrsmittel fanden …
Was auch immer.
Doch er wusste, dass seine Stimme in seinen Ohren alle paar Sekunden leiser klingen würde, selbst wenn er sprach, als manipuliere jemand den Lautstärkeregler auf der Fernbedienung seines Gehirns. Ein anderer Ton trat dann an ihre Stelle. Ein Ton, den er sich hatte ausdenken müssen. Der nur in seiner Vorstellung existieren konnte. Ein Ton, den sehr wenige Menschen, sehr wenige lebende Menschen, je gehört haben konnten. Das dumpfe Klatschen eines Cricketschlägers, der auf einen Schädel trifft.
Immer und immer wieder.
Der Mord an Ken Bowles, der meine Schuld ist.
Das Telefon klingelte. Geistesabwesend streckte Thorne die Hand danach aus, hob ab, ohne es auch nur anzusehen, und sagte nichts.
Nach einem Augenblick war eine Stimme zu hören. Angespannt, ungeduldig, ein leichter Midlands-Akzent.
»Spreche ich mit Thorne?«
»Ja …«
»Hier ist Perks. Sie haben versucht, mich zu erreichen.«
»Hab ich das?«
Perks seufzte. »Irgendjemand hat es versucht. Ex-Detective Chief Inspector Vic Perks. Ich hab 1985 die Ermittlungen in dem Karen-McMahon-Fall geleitet.«
Thorne schnappte sich einen Notizblock und begann zu schreiben …
Während er sich Details notierte, während er und Perks ein Treffen vereinbarten, begann sich ganz hinten in Thornes Kopf ein Bild zu formen. Es war eine Sekunde da und gleich wieder weg. Dann war es wieder da, wie das Bild, das man in einer Wolkenformation zu erkennen glaubt oder in einem merkwürdigen Schattenriss.
Er sah einen Unbekannten, der sich herabbeugte und ihm die Hand entgegenstreckte –
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