Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
ins Wasser geworfen, mit oder ohne Gewichten, bis diejenigen, die nach ihnen suchten, selbst nur noch in der Erinnerung anderer fortlebten. Bis die Toten nichts weiter waren als eine Seite in einer vergilbten Akte oder ein Name auf einem zahnärztlichen Dokument.
Sicher ereignete sich dergleichen auch in Kleinstädten oder Dörfern, wo so etwas noch immer bemerkenswert war, aber nach Thornes Empfinden hatte London etwas, was dem anonymen Tod zustatten kam. Natürlich gab es genug Leute, die sich den Mund fusslig redeten, welch kleine Gemeinschaft ihr jeweiliges Viertel doch war, nein wirklich, freundlich und offen für jeden … Thorne wusste, dass das in Wirklichkeit nicht mehr bedeutete, als dass der Mann vom Kiosk einen beim Vornamen kannte und der Kerl hinter dem Tresen der Stammkneipe sich vielleicht an den Lieblingsdrink erinnern konnte. Wenn es hart auf hart kam, konnte jederzeit der Kontakt zum besten Freund abreißen, falls der mehr als zwei Straßen weit weg wohnte, und die Reaktion der meisten Londoner auf eine Vergewaltigung in ihrem Zugabteil würde sich darauf beschränken, die Zeitung etwas höher zu halten.
Thornes deprimierende Reflexionen über die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war, in der er lebte und arbeitete, wurden durch die simple und nicht unerwartete Tatsache hervorgerufen, dass sie am Ende des Tages noch immer nicht die Leiche gefunden hatten, von der sie wussten, dass sie irgendwo dort draußen war. Selbstverständlich hatten sie auf die Vermisstenanzeigen geachtet, aber es war nichts hereingekommen. Das Opfer wurde bis jetzt noch nicht vermisst. Dafür konnte es hundert Gründe geben.
Während der Fahrt nach Wandsworth, wo er und Holland mit der Frau sprechen wollten, die in der vergangenen Nacht den Mordanschlag überlebt hatte, versuchte Thorne nicht an die Frau zu denken, die nicht überlebt hatte. Wo immer ihre Leiche liegen mochte, sie barg vielleicht entscheidende Hinweise, die sich gerade in diesem Moment in nichts auflösten, unter leisem Blubbern und Bläschenwerfen, während sie langsam ihre Form, ihr Aussehen, ihre Zusammensetzung verlor.
Die Stadt rückte die Leiche heraus, wenn sie so weit war.
In der Zwischenzeit gab es genug, worüber sich Thorne den Kopf zerbrechen konnte.
Wirklich Sorge bereitete ihm die Tatsache, dass die Morde schneller aufeinander folgten. Die Morde an Carol Garner und Ruth Murray lagen neunzehn Tage zurück. Zwischen diesen Morden und dem Tod von Jane Lovell und Katie Choi waren vier Monate verstrichen. Zunehmend kürzere Intervalle waren ein vorhersehbares Muster, aber das hier war dramatisch. Außer es lagen zwischen diesen Fällen Morde, die sie übersehen hatten … Eine unangenehme Vorstellung, die Thorne sofort von sich wies; stattdessen machte er sich die einen Deut weniger unangenehme zu Eigen, dass die Mörder allmählich in Fahrt gerieten.
Die Mörder …
Die andere große Sorge, die Thorne beschäftigte. Zwei Mörder, von denen einer bislang noch immer rein theoretisch war. Ein Schatten. Sie waren unterwegs zu einer Frau, die einen von beiden gesehen hatte. Denselben, den auch Margie Knight und Michael Murrell gesehen hatten. Den, dessen Gesicht auf jeder Zeitung und jedem Fernsehschirm zu sehen war. War er der Unvorsichtigere von beiden? Der Nachlässigere? Oder war sein Partner nur so viel besser darin, seine Spuren zu verwischen und unsichtbar zu bleiben?
Der Mörder, von dem die einzigen Spuren stammten, die sie hatten, dessen leeres, bebrilltes Gesicht nun auf Hunderten von Plakaten prangte, der schnell und effektiv mordete – eine Stichwunde, ein anhaltender Druck auf die Kehle … der Mörder, der weinte. Er war nicht derjenige, der seine Opfer abschlachtete und blutbesudelt im Dunklen verschwand, ohne gesehen zu werden. Er war nicht derjenige, der das Leben aus Carol Garner herausquetschte, zudrückte und die Knochen zermalmte, während ihr kleiner Junge ihm dabei zusah.
Der war er nicht …
Thorne wollte den Mörder auf diesen Plakaten kriegen. Er wollte ihn unbedingt. Aber seinen Partner wollte er noch viel mehr.
Sean Bracher warf einen Blick auf seine Uhr, als er am Tresen auf den Wichser wartete, der sein Bier nicht brachte.
Sie kam zu spät.
Er machte sich keine Sorgen, versetzt zu werden, sondern war nur etwas gereizt, dass er wieder würde aufstehen müssen, um ihr etwas zu trinken zu holen, wenn sie endlich so gnädig wäre zu erscheinen. Wortlos schob er das Geld für sein Bier über den
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