Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
nun, noch bin ich hier. Dieses Jahr sind es sieben Jahre, und ich gehöre bereits zum alten Eisen.« Cookson sah an Thorne vorbei zum Klassenzimmer. »Ja, da wären wir …«
Er klopfte an die Tür, stieß sie auf und hielt sie für Thorne offen. »Vielleicht sehen wir uns später noch einmal …«
Sarah McEvoy nahm noch einen Schluck aus der Flasche auf ihrem Schreibtisch. Sie hatte bereits ein paar Flaschen geleert, doch das Wasser konnte genauso wenig gegen dieses trockene Gefühl im Mund und den säuerlichen Geschmack in der Kehle ausrichten wie die Zigaretten.
Noch immer plagten sie Schuldgefühle, weil sie vor fünf Minuten den Detective Constable so angeschnauzt hatte. Sie ließ es an einem Untergebenen aus, so wie man es zuvor an ihr ausgelassen hatte. Sie war spät dran gewesen und nicht gut drauf, und ein Anschiss von Brigstocke hatte nicht dazu beigetragen, dass sie sich besser fühlte. Die schlechte Laune grassierte bei dieser Ermittlung wie ein Virus, während der dafür Verantwortliche sich in irgendeine Schule davongemacht hatte und dort Gespenster jagte.
Eigentlich müssten sie alle auf einer Welle des Hochgefühls reiten, seit ihnen Palmer in den Schoß gefallen war. Aber das wäre für Tom Thorne viel zu einfach gewesen. Es sah beinahe so aus, als habe er eine Aversion gegen jede Stimmungslage, die nicht dicht am Boden entlangschrammte. Als sei jede Minute, die verstrich, ohne dass sie den zweiten Mörder fassten, ihre Schuld. Als wolle er auf jedem Gesicht tiefe Schamesröte sehen. Während es ihn nicht im Geringsten störte, einen Mörder draußen herumspazieren, ihn dieselbe Luft atmen zu lassen wie normale Menschen.
Sie schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Sie wusste, dass Thorne nur das tat, was er für richtig hielt.
Seit der Urlaub vorüber war, wurde sie von Tag zu Tag gereizter. Ein paar unendlich lange Tage, die sie im Haus ihrer Eltern in Mill Hill in der Falle saß. Als ob ihr Chanukka nicht am Arsch vorbeiginge. Festsaß mit ihrem öden Bruder und seiner stinklangweiligen Familie. Sie sehnte sich verzweifelt danach auszugehen, unter Fremden zu sein.
Das hatte sie dann an Silvester wettgemacht, das sie ausgiebig mit Fremden verbrachte. Die in weiße Stroboskopblitze oder in rotes und grünes Scheinwerferlicht getauchten Gesichter waren ihr auf beruhigende Weise unvertraut gewesen, und die Nächte waren immer länger und lauter geworden und absolut fantastisch, und plötzlich … ja, plötzlich bereitete es ihr Schmerzen, sich morgens in die Arbeit zu schleppen. Nicht immer, aber immer öfter …
Und Thorne und Brigstocke konnten sie ohnehin nicht leiden. Die beiden ließen ständig Bemerkungen fallen über ihre Klamotten und wie sie aussah, was sie, da war sie sich verdammt sicher, niemals getan hätten, hätte sie keine Titten gehabt.
Sie streckte die Hand nach der Wasserflasche aus und schraubte sie auf. Ihr Handy läutete.
»McEvoy.«
»Hier ist Holland …«
Sie nahm einen Schluck Wasser und behielt ihn im Mund, während sie darauf wartete, dass Holland den Grund seines Anrufs erklärte. Was er nicht tat. Eine Weile lauschte sie dem weißen Rauschen, dann schluckte sie das Wasser hinunter und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. »Was?«
Wieder ein paar Sekunden weißes Rauschen. »Nichts Dringendes. Wollte nur Kontakt zur Basis halten.«
Kontakt zur Basis? »In welcher Krimiserie hast du das denn aufgeschnappt?«
»Wie bitte?«
»Vergiss es. Bin nur zynisch drauf. Wo ist Thorne?«
»Versucht Nicklins alten Lehrer aufzuspüren …«
Während McEvoy ihm zuhörte, lief der Detective Constable, den sie kurz zuvor angebrüllt hatte, an ihrem Schreibtisch vorbei. McEvoy lächelte – der Versuch einer Entschuldigung. Auf die der Detective Constable nicht einging. »Bei dir hallt es so merkwürdig.«
»Ich bin auf der Toilette«, antwortete Holland. »Freut mich, dass diese schnieken Kids genauso auf den Boden pissen.«
»So schnieke sind sie doch nun auch wieder nicht.«
»Ich hab kaum jemanden auf dem Schulhof Fußball spielen sehen.«
»Yeah, aber nicht wie … Keksspiel-schnieke.«
»Hä …?«
McEvoy lachte. »Das erzähl ich dir ein andermal.«
»Allerdings entgeht ihnen auch was«, bemerkte Holland. »Weil sie auf einer reinen Jungenschule sind.«
»Was denn?«
»Die reine, ungezügelte Freude, in die Mädchentoilette zu stürmen und sich die Seele aus dem Leib zu brüllen.«
McEvoy konnte sich sehr gut an derlei Vorkommnisse an
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