Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
ihrer Schule erinnern. Sie sah sich selbst zwischen ihrem zwölften und fünfundzwanzigsten Lebensjahr immer wieder angewidert den Kopf schütteln angesichts des Gejohles einer Hand voll testosterongeschädigter, pubertierender Jungs. Bei der Erinnerung daran musste sie schmunzeln. Dieser Telefonanruf tat ihr richtig gut. »Warum habt ihr das eigentlich getan? Das hab ich nie kapiert.«
»Ich denke, das ist was Genetisches. Sich sein Territorium sichern oder so …«
McEvoy blickte auf. Auf der anderen Seite der Einsatzzentrale redete Brigstocke mit Steve Norman. Brigstocke sah zu ihr herüber, Norman tat es ihm gleich. Hinterhältiges kleines Arschloch. Ob sie wohl ihr Lachen gehört hatten? Sie trank erneut einen Schluck Wasser; ihr Mund war noch immer trocken. »Gibt’s was Interessantes?«
»Nicht wirklich. Und bei dir?«
»Nichts. Dieser Arsch von Derek Lickwood war wieder mal am Telefon und wollte wissen, was so läuft. Er denkt wohl, man lasse ihn im Dunkeln, droht ständig damit, vorbeizukommen und Krach zu schlagen. Warum soll ich mich mit dem rumärgern?«
»Pech gehabt. Lovell war sein Fall, wir müssen daher mit ihm zusammenarbeiten. Der Boss meint, du seist dafür besser geeignet als er …« McEvoy stöhnte. »Was ist mit Palmer?«
»Arbeitet wieder.« Sie beließ es dabei, aber ihre Stimme klang gereizt. Was ungesagt geblieben war, war offensichtlich. Arbeitet wieder, hockt über seinen Zahlenkolonnen und trinkt Kaffee, obwohl man ihm eigentlich Gürtel und Schuhbänder wegnehmen und ihn in eine kahle Zelle sperren sollte, wo er mit angezogenen Knien und klopfendem Herzen auf einer Pritsche hocken und auf das Klirren der Schlüssel warten könnte.
Sie würde nie gegenüber Holland Kritik an Thorne üben. Außerdem war ihr durchaus bewusst, dass ihr Urteilsvermögen in letzter Zeit womöglich etwas gelitten hatte. Sie neigte vielleicht zu Extremen …
»Genau«, sagte Holland. »Gehen wir später auf ein Bier?«
Sie sah hinüber zu Brigstocke. Er und Norman waren noch immer in ihr Gespräch vertieft. »Ich bin noch nie von einem Mann auf einer Toilette angemacht worden.« Sie konnte hören, wie Holland rot wurde. »War nur ein Witz, Holland.«
»Yeah …«
Mit rauchiger Stimme fügte sie leise hinzu: »Ich werde ständig von Männern auf Toiletten angemacht.«
Holland lachte nicht.
McEvoy blies die Backen auf und atmete laut aus. Sie streckte die Hand nach der Wasserflasche aus. Sie war leer. »Hör mal, Dave …«
»Ich hab damit gemeint … auf ein Bier. Das ist alles.«
Sie bemühte sich, ihn nicht anzuschnauzen. »Schon klar.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass einer von beiden sonderlich an Mathematik interessiert gewesen wäre.«
Thorne nickte geduldig. Ken Bowles schien sich generell nicht an viel zu erinnern. Er war sich bewusst, wie stressig der Lehrerberuf war, doch Bowles konnte unmöglich so alt sein, wie er aussah. Seine Haare waren schneeweiß, und seine Haut wirkte grau und ledrig. Die Augen hinter dem Drahtgestell seiner Brille waren wässrig, seine riesigen Zähne waren braun wie altmodische Bonbons aus dem Glastopf und klapperten laut aufeinander, wenn er sprach – und gelegentlich auch, wenn er nichts sagte.
»Wissen Sie noch, ob Palmer und Nicklin eng befreundet waren?«, fragte Thorne.
Seufzend trat Bowles ans Fenster. Seine Krawatte war verrutscht und seine Hose kreideverschmiert. »Ich kann mich nicht besonders gut an sie erinnern. Ich fürchte, ich konnte beide nicht ausstehen, aber das ist nicht ungewöhnlich. Mathematikunterricht ist der Unterricht, der am häufigsten gestört wird. Der größere von beiden … war das Palmer?« Thorne nickte. »Er ließ sich von seinem Freund ablenken. Da …« Er deutete auf die hintere Ecke des Zimmers. »Dort hinten trieben sie ihren Unsinn. Tauschten Briefe aus und lachten. Palmers Hausaufgaben waren gut, glaub ich, aber während des Unterrichts war er … nicht bei der Sache.«
»Hätten Sie die beiden nicht auseinander setzen können? Palmer nach vorne …?«
Bowles zuckte mit den Achseln und sah aus dem Fenster. »Ich hatte sie nicht so lange, verstehen Sie? Im September wären sie wahrscheinlich ohnehin in verschiedene Leistungsgruppen gekommen, doch dazu kam es ja nicht, weil sie von der Schule verwiesen wurden.« Er rubbelte mit dem Finger an einem Schmutzfleck am Fenster. »Ein älterer Junge, ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern. Sie schnappten sich ihn außerhalb des Schulgeländes und
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