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Tom Thorne 04 - Blutzeichen

Titel: Tom Thorne 04 - Blutzeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Billingham
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Inzwischen war es nicht mehr ganz so voll gestopft wie damals. Einen Großteil des Gerümpels hatten sie auf dem Schrank und unter dem Gästebett verstaut, Aktenordner stapelten sich auf der ehemaligen Kommode. Das Zimmer wurde jetzt nur noch ein-, zweimal im Jahr als Gästezimmer genutzt, wenn Jacks Tochter aus seiner ersten Ehe zu Besuch kam.
    Von unten rief Jack: »Ich mach Tee, Schatz. Möchtest du welchen?«
    »Ja, bitte.«
    Chamberlain hatte nie diese Kollegen – Exkollegen – verstanden, die behaupteten, sie könnten sich an bestimmte Fälle nicht mehr erinnern. Sie konnte es nicht fassen, wenn Kollegen Mühe hatten, sich an die Namen und Gesichter von bestimmten Vergewaltigern oder Mördern zu erinnern. Oder an deren Opfer. Ja, eine Aktennummer vergaß man oder die Farbe eines Fahrzeugs, natürlich, aber doch nicht die Menschen. Zumindest sie vergaß sie nicht.
    Und auch nicht Thorne, so viel wusste sie. Er hatte ihr einmal erzählt, dass er am wenigsten die Gesichter vergessen konnte, die er nie gesehen hatte. Die Gesichter der Mörder, die er nicht zu fassen bekam. Die selbstzufrieden grinsenden Gesichter derer, die davongekommen waren.
    Vielleicht hatten die, die behaupteten, sich nicht zu erinnern, eine Methode gefunden, um zu vergessen, und ihr einen handwerklichen Kniff voraus. Falls dem so war, hätte sie wohl besser mehr Zeit mit ihnen verbringen, öfter auf ein Curry oder ein Bier mit ihnen gehen sollen. Womöglich hätten sie ihr dann das Geheimnis verraten.
    Aus Gründen, die sie sich selbst noch nicht eingestehen wollte, hatte sie die Jessica-Clarke-Akten nicht auf offiziellem Weg angefordert, das würde nur Aufmerksamkeit auf sie oder den Fall ziehen. Stattdessen war sie in das Archiv an der Victoria Station gelaufen und hatte ein paar Akten überflogen, während ein alter Freund ihr den Rücken zukehrte. Kaum hatte sie den ersten, verknitterten braunen Ordner geöffnet, wusste sie, dass ihr Bild von Gordon Rooker stimmte. Das Gesicht auf dem verblichenen schwarz-weißen Polizeifoto sah genauso aus, wie sie es sich in jener Nacht vorgestellt hatte, als sie den ersten Anruf erhielt …
    »Ich habe sie angezündet …«
    Es war noch immer das Gesicht, das sie vor sich gesehen hatte, in all den vergangenen zwanzig Jahren. Nach ihrem Gespräch mit Thorne hatte sie versucht, das Bild im Kopf älter zu machen, sich die Haare grau vorzustellen und die Falten hinzuzufügen, die Thorne beschrieben hatte, doch ohne Erfolg.
    Vermutlich funktionierte das Gedächtnis nun mal so …
    Ein Kollege von der Cold Case Unit, inzwischen Anfang sechzig, hatte an dem Fall der Moormorde mitgearbeitet. Er erzählte ihr, dass er, wenn er an Hindley und Brady dachte, noch immer ihre berühmt-berüchtigten Fotos vor sich sah, diesen selbstzufrieden-verschlagenen Ausdruck und die tief liegenden Augen. Es gelang ihm immer noch nicht, sich den verhärmten alten Mann und die lächelnde, muttchenhafte Brünette vorzustellen.
    Bizarrerweise musste Carol Chamberlain Rookers Gesicht vor sich sehen. Sie setzte diese detaillierte Erinnerung innerlich gleich mit ihrer Überzeugung, dass er schuldig war. Sein Gesicht, das Gesicht, das sie so genau kannte, war das Gesicht des Mannes, den sie neben dem Zaun knien sah. Sein Gesicht, an dessen Lächeln im Verhörraum sie sich noch erinnerte, war das Gesicht des Mannes, den sie hastig den Hügel hinunterrennen sah.
    Sie klammerte sich an diese Erinnerung, nach Thornes Anruf noch stärker. Natürlich hatte sie auch gezweifelt, und Thornes Frage am Bahnhof hatte ihr gezeigt, dass Thorne das ahnte. Der Zweifel spross im Dunkel und wuchs, als sie zitternd auf dem Bett saß. Er war in die Höhe geschossen wie Unkraut, hatte sich seinen Weg durch die Risse gesucht, während sie wach lag.
    »Ich habe sie angezündet …«
    Jetzt schwand dieser Zweifel wieder. Seit sie zum Telefon gegriffen und Thorne angerufen hatte. Nun war Thorne bei Rooker gewesen und hatte gehört, wie er es bestätigte. Hatte sein erneutes Geständnis gehört.
    Sie war erleichtert, aber die Erleichterung konnte nicht vollkommen sein, denn obwohl die Erinnerung an Rookers Gesicht etwas seltsam Tröstendes hatte, war da auch noch das Gesicht Jessica Clarkes.
    Chamberlain kannte die Fotos, Schnappschüsse von einem lächelnden, blassen Teenager mit schulterlangen dunklen Haaren. Sie sah noch immer die Hände der Eltern zittern, als sie die Holzbilderrahmen von einem Sideboard nahmen, aber das Gesicht des Mädchens – das

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