Tom Thorne 04 - Blutzeichen
Osten. Die City Road entlang und weiter durch Shoreditch in die Gegend, die vor vierzig Jahren vom Kray-Clan beherrscht worden war. Die Straßen im Londoner Osten waren damals viel sicherer, wenn man der Auskunft einiger Leute Glauben schenken durfte.
Marcus Moloney hätte ihnen wohl Recht gegeben.
Das Auto war auf einem unbebauten Grundstück abgestellt, keine hundert Meter von der Roman Road entfernt. Hier lief der Grand Union Canal entlang eines heruntergekommenen Parks namens Meath Gardens, und die Eisenbahngleise trennten Globe Town von Mile End.
Ein Schiffer, der auf seinem weiter oben im Kanal angelegten Lastkahn schlief, hatte die Schüsse gehört. Er war fünf Minuten später mit seinem Hund hierher gekommen, um nachzusehen.
Thorne parkte den Wagen und sah selbst nach.
Der silberne Jaguar wurde von zwei links und rechts aufgestellten Scheinwerfern hell angestrahlt. Die Türen standen offen. Thorne wusste nicht, ob er so vorgefunden worden war.
»Sir …«
Thorne nickte, als er an einem DC von der SO7 vorbeikam, der in die entgegengesetzte Richtung eilte. Am Auto dann konnte er die auf dem Vordersitz zusammengeklappte Leiche ausmachen. Sah aus wie eine Reisetasche. Ständig tauchte die weiße Kapuze eines Spurensuchers im Rückfenster auf und wieder ab. Als er zur Seite trat, sah Thorne Holland und Stone über den Kotflügel gebeugt stehen. Holland sah auf und warf ihm einen Blick zu, dessen Aussage ihm unklar blieb, der aber ganz sicher nichts Gutes zu bedeuten hatte. Weitere Mitarbeiter der Spurensuche arbeiteten in den Fußräumen und auf den Rücksitzen. Ein Fotograf und ein Videokameramann machten Aufnahmen. Drei oder vier weitere Polizeibeamte standen mit dem Rücken zu ihm am Kanalufer und diskutierten.
Die Scheinwerfer gaben jeden Kratzer, jeden Fleck auf den Autofenstern preis, jedes Fitzelchen Gewebe oder Hirn, das an den Scheiben klebte.
Thorne schnappte sich einen Overall von einem Polizisten, der sie anbot wie Werbegeschenke. »Dave …«
Holland setzte an herüberzukommen, blieb jedoch stehen und deutete mit einem Kopfnicken zu den Polizeibeamten, die sich auf den Weg zum Auto machten. Es waren drei Männer in Anzügen ganz unterschiedlicher Funktion: Brigstocke, Tughan und ein Pressesprecher namens Munteen. Doch am meisten überrascht – und entsetzt – war Thorne, den Mann in Uniform hier zu sehen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er Detective Chief Superintendent Trevor Jesmond zuletzt an einem Tatort begegnet war.
Jesmond raffte seinen blauen Mantel. »Tom.«
»Sir.«
Thorne brach das kurze, aber unangenehme Schweigen, das sich anschloss. Mit einem Blick auf das Auto bemerkte er: »Die Zarifs haben den Einsatz ordentlich erhöht. Marcus Moloney spielt in einer anderen Liga als Mickey Clayton und der Rest. Ab jetzt wird’s ungemütlich …«
Er sah zu Russell Brigstocke, der ihn mit demselben Blick bedachte wie zuvor Holland.
»Der Einsatz ist sicherlich höher«, sagte Jesmond, »aber nicht aus dem Grund, an den Sie denken …«
»Oh?« Thorne sah zu Tughan, der nur Augen für den Kies hatte.
Jesmond wirkte so mitgenommen, so am Boden zerstört, wie Thorne ihn nicht kannte. »Marcus Moloney war ein Undercover-Agent der Polizei«, erklärte er.
Zehntes Kapitel
Thorne verließ den Tatort bei Sonnenaufgang und fuhr durch die Straßen, auf denen sich langsam wieder Leben regte. Er verbrachte ein paar Stunden zu Hause – duschte sich, zog sich um und frühstückte –, und das mit dem bisschen Schlaf, das er zusammengekratzt hatte, bevor Hendricks ihn wegen des Telefonanrufs weckte.
Auf der Fahrt nach Hendon hatte er Probleme, sich zu entscheiden, ob diese Schwere von dem Schlafmangel und dem Wein gestern Abend kam oder eine Nachwirkung der Atmosphäre am Kanalufer war. Die Veränderung war bei denen, die die Wahrheit über Moloney nicht kannten, mit Händen zu greifen, nachdem sie sich herumgesprochen hatte. Der Lärmpegel lag deutlich niedriger; die Vorgehensweise war eine Spur rücksichtsvoller. Mit Leichen wurde immer respektvoll umgegangen, aber der Respekt war nicht immer gleich groß. Ob tot oder nicht, ein Gangster wurde von der Polizei einen Tick anders behandelt als ein Kollege.
Thorne hasste diesen »Einer von uns«-Quatsch, aber er konnte die Haltung dahinter nachvollziehen. Das Leben eines Polizisten war natürlich nicht mehr oder weniger wert als das eines Arztes, eines Lehrers oder eines Einzelhandelsverkäufers. Aber Ärzte, Lehrer und
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