Tom Thorne 04 - Blutzeichen
…
Als er die Tür oben hörte, trat Thorne in die Diele und wartete an der Haustür. Der Zeitpunkt erschien ihm passend.
Clarke lief die Treppe herunter und drückte Thorne ein schmales schwarzes Buch in die Hände. »Ich dachte, vielleicht interessiert Sie ihr Tagebuch. Es macht nichts, wenn nicht. Geben Sie es mir einfach zurück, wenn Sie damit fertig sind.«
»Ja, natürlich …«
Clarke reichte ihm das Foto mit einem kleinen Nicken. Thorne nahm es, ohne einen Blick darauf zu werfen, aus Angst, es anzustarren. Dabei beobachtet zu werden, wie er es anstarrte. Ein Blick in Clarkes Gesicht zeigte ihm, dass ihm diese Reaktion vertraut war. Er hatte sie hunderte Male zuvor gesehen.
»Auf ihrer Beerdigung waren Gangster«, sagte er. »Mörder und Drogenbarone und Typen, die dafür bezahlt werden, anderen wehzutun. Sie kamen, um ihr Respekt zu erweisen, nachdem sie sich umgebracht hatte.« Er sprach ruhig, dennoch war seine Wut unverkennbar, wie eine Gestalt hinter einem Musselinvorhang. »Es war fantastisches Wetter, als wir sie beerdigten, wirklich ein unglaublich schöner Tag. Wir sagten alle, das sei Jess’ Werk, weil sie schönes Wetter so liebte. Und dann tauchten diese Typen in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen auf, als kämen sie direkt aus Reservoir Dogs, und machten alles kaputt. Kevin Kelly und seine aufgedonnerte Frau und der andere Kerl, der den Laden übernommen hat … Ryan. Ein ganzer Haufen. Sie standen alle da mit ihren riesigen Kränzen und schwitzten. Auf einem der Kränze stand ihr Name, um Himmels willen. Standen da rum mit diesen Scheißkränzen für meine kleine Jess, die sterben musste, weil ihre Freundin die Tochter eines Gangsters war …«
Es fiel Thorne schwer, nicht wegzusehen. Er fuhr mit den Daumen über die glänzende Oberfläche des Fotos in seinen Händen. Nickte, wenn es angebracht schien.
»Wir haben uns abgerackert, um Jess auf diese Schule zu schicken, das Geld dafür aufzubringen. Was musste Kelly dafür tun? Wie viele Leute musste er umbringen oder ausrauben lassen, um dieses kleine … um sein kleines Mädchen auf diese Schule zu schicken?«
Oben an der Treppe tauchte ein Teenager auf, ein Mädchen mit langen aschblonden Haaren.
Clarke wandte sich um, als er Thornes Augen nach oben wandern sah. »Isobel …«
Thorne war sich nicht sicher, ob Clarke das Mädchen ansprach oder vorstellte. Die Frage schoss ihm durch den Kopf, ob Isobel wohl ihrer Stiefschwester ähnlich sah. Er hätte gerne auf dem Foto nachgesehen, aber das obere Bild zeigte Jessica nach dem Anschlag, und Thorne brachte es nicht über sich, es wegzunehmen und das »Vorher« -Foto nach oben zu legen.
»Hallo«, sagte er.
Das Mädchen zupfte eine Begrüßung brummend an seinem Pullover. Clarke reagierte mit einem müden väterlichen Schulterzucken. »Sie ist dreizehn«, gab er als eine Art Erklärung. Dann änderte sich sein Gesichtsausdruck. »In ein paar Wochen wird sie vierzehn …« Er fasste an Thorne vorbei und öffnete die Haustür.
Thorne spielte mit dem Gedanken, eine flapsige Bemerkung über Kinder zu machen, die zu schnell erwachsen werden. Doch bevor er Gelegenheit dazu hatte, trat Clarke nahe an ihn heran und senkte die Stimme. »Dieser Typ, wer immer es ist, hat versucht, Jess umzubringen. Das haben Sie gesagt. Mehrmals sogar.«
»Es tut mir Leid, ich wollte …«
»Er hat nicht versucht, sie umzubringen, Mr. Thorne. Er hat sie umgebracht.« Clarke sah Thorne in die Augen.
Instinktiv wich Thorne seinem Blick aus, schämte sich und zwang sich, Clarke in die Augen zu blicken.
»Es dauerte ein paar Jahre, bis sie starb, aber er hat sie umgebracht.«
Es gab wenig zu sagen außer »Auf Wiedersehen«, also sagten sie es beide, und dann fiel die Haustür zwischen ihnen zu.
Thorne blickte zurück. Durch die roten, blauen und grünen Milchglasscheiben konnte er Ian Clarke ausmachen, der langsam die Treppe hinauf zu seiner Tochter ging.
Die Menschenmenge an einer Bushaltestelle ist auf den ersten Blick nicht mehr als genau das: eine Menschenmenge, schwer auseinander zu halten. Und das liegt nicht nur an der Qualität des Films. Ein Haufen dicht auf einem Bürgersteig nebeneinander stehender Leute, die mit der Kälte kämpfen oder sich – wie die Mädchen – in einer Gruppe zusammendrängen, um tausend Dinge zu besprechen, während sie auf den Bus warten.
Der Ton fehlt, aber es fällt nicht schwer, sich die Schreie vorzustellen, das Entsetzen und die Verständnislosigkeit.
Die
Weitere Kostenlose Bücher