Tom Thorne 04 - Blutzeichen
essen wollen …«
Sie suchten ihre Siebensachen zusammen – Taschen, Jacken, Hüte. Als Eileen, Victor und sein Vater sich nacheinander langsam zur Tür aufmachten, sah Thorne noch einmal unter dem Tisch nach, um sicherzugehen, dass sie nichts vergessen hatten.
Er wünschte sich, er wäre woanders. Er dachte über den Fall nach; über Rooker und Ryan und zwei Männer, die durch einen dunklen Wald um ihr Leben liefen. Er stellte sich Alison Kelly und Jessica Clarke vor, Gesichter auf seinem Kissen und in einer Schublade neben seinem Bett.
Thorne fand Eileens Schirm unter ihrem Stuhl. Er nahm ihn und folgte ihr zur Tür. Wenn er es sich genau überlegte, war es vielleicht ganz gut, einen Tag abzuschalten. Vielleicht war es genau das, was er brauchte: sich wieder wie ein junger Spund zu fühlen, der von drei etwas merkwürdigen Erwachsenen durch die Gegend gezerrt wurde.
Sie liefen zur Uferpromenade. Thorne schlenderte gemächlich voraus und schaute sich Dinge an, die ihn nicht wirklich interessierten, um keinen zu großen Vorsprung vor den anderen zu bekommen.
Der Frühling hatte zwar schon seit ein paar Tagen Einzug gehalten, aber er war noch immer nicht richtig auf die Beine gekommen. Es war grau – genau so ein Tag, wie ihn Thorne mit dem Meer verband. Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass das Bild vollkommen wäre, wenn Eileen einen Grund bekäme, ihren Regenschirm aufzuspannen. Natürlich wurde er Brighton nicht gerecht, das teuer und sehr beliebt war und mit seiner lebendigen Musikszene und seinem Ruf als Schwulenmetropole Großbritanniens wohl nicht viel gemein hatte mit den üblichen Urlaubsdomizilen am Meer. Aber Vorurteil blieb Vorurteil, und was Thorne betraf, hielt er sich lieber fern von Städten, in denen es Steine mit dem aufgemalten Ortsnamen zu kaufen gab.
Tatsächlich waren Leute am Strand, um sich zu »sonnen«, als wollten sie seine vorgefasste Meinung bestätigen. Mehrere Familien kampierten auf dem Kies, fröstelnd zwischen flatternden Windbrechern. Aus dreißig Metern Entfernung noch war ihre Gänsehaut deutlich zu erkennen. Sturheit, Optimismus, Dummheit – man konnte es nennen, wie man wollte. Thorne schien es so typisch englisch, wie er es schon lange nicht mehr erlebt hatte.
»Schau dir nur diese Dösköpfe an«, sagte Eileen.
Thorne grinste. Natürlich gab es noch das eine oder andere, das noch englischer war …
»Wird saukalt, wenn ihr mich fragt.« Eileen raffte ihre Jacke vor dem Hals. »Höchstens zehn Grad, glaub ich. Und die gefühlte Kälte wird noch ein paar Grad tiefer sein.«
Gefühlte Kälte. Wetterberichtsmoderatoren schienen in den letzten Jahren einen Narren an dieser Bezeichnung gefressen zu haben. Thorne fragte sich, wo sie wohl ihren Ursprung hatte …
»Nun, hier in Spitzbergen liegt die Temperatur bei minus vierzig Grad, aber die gefühlte Kälte ist offiziell so kalt, dass man sich den Arsch abfriert …«
Sie liefen weiter, und Thorne hörte seinen Vater vor sich hin brabbeln, in wie vielen Jahren wie viele Arbeiter wie viele Kilo Goldfarbe verarbeitet hatten, um den Royal Pavillon fertig zu stellen. Schließlich erreichten sie das Restaurant. Eileen bemühte ihren besten Akzent, um den Kellner nach einem Tisch zu fragen. Als sie sich setzten, warf Thorne, der bereits beschlossen hatte, die Runde zum Mittagessen einzuladen, einen Blick auf die Preise. Sie entschieden sich alle für das dreigängige Sonntagsmenü. Dafür reichte es noch.
»Nett hier«, sagte Victor.
Eileen nickte. »Normalerweise koche ich sonntags immer für alle, aber Trevor und seine Frau sind weggefahren, und Bob spielt Golf, also dachte ich mir, ich lass es. Außerdem ist es ja schön, sich mal was zu gönnen, nicht wahr?«
Thorne brummte. Sich etwas zu gönnen? Für weniger als zehn Pfund pro Kopf? Das war schon etwas dick aufgetragen. »Schade, dass wir Trevor und Bob nicht treffen«, sagte er. Trevor war Eileens Sohn, und Thorne vermutete, dass er keineswegs weggefahren war. Ein Mittagessen mit dem durchgeknallten Onkel Jim war nicht gerade eine verlockende Vorstellung. Und auch Bobs Golfspiel ließ sich ziemlich sicher damit erklären. Er hatte es wohl in Windeseile arrangiert, als er erfuhr, dass der bekloppte Schwager und der bekloppte Freund des Schwagers ein Wochenende hier verbringen wollten.
»Ich weiß«, sagte Eileen. »Sie haben beide gesagt, sie würden euch gerne mal wieder sehen.«
Plötzlich tat Eileen ihm ungemein Leid, weil sie gezwungen war zu lügen.
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