Tom Thorne 06 - Die Geliebte des Mörders
dazu aufzuraffen, etwas zu tun, wenn man sich nur zusammenrollen und daliegen, einfach nur schlafen wollte, bis alles vorüber war. Nachdem der Mann gegangen war, hatte er Stunden damit verbracht, im Kopf Gedichte aufzusagen, Songtexte zu rezitieren … alles, nur um nicht darüber nachdenken zu müssen, was der Mann ihm erzählt hatte. Was er ihm immer wieder erzählte. Das war das pure Gift, absoluter Mist, so wie die mit sanfter Stimme vorgetragenen Lügen, mit denen dieser Fiesling in der Schule ihn gequält hatte. Der Mann genoss es richtig, mit seiner Taschenlampe und seinem Dreck hier herunterzukommen. Ihn damit zu besudeln und ganz wirr im Kopf zu machen. Ihn zu schwächen.
Also füllte Luke seinen Kopf so weit es ging mit anderen Dingen, um keinen Platz mehr zu lassen für diese Lügen.
Und er konzentrierte sich mit aller Macht auf seine Schnitte und Blutergüsse. Er fuhr sich mit dem Fingernagel über die abgeschürften Fingerknöchel, bis dieser stechende Schmerz den tiefen, dumpfen Schmerz ausblendete, den die Worte des Mannes in ihm ausgelöst hatten.
Er rappelte sich hoch und spürte Teile des heruntergerissenen Klebebands, als er den dreckigen Boden mit den Händen abtastete und sich dabei auf den Grundriss des Kellers zu konzentrieren versuchte, den er in seinem Kopf ausgearbeitet hatte: die niedrigen Nischen, die feuchten Winkel, die mit einer dicken Staubschicht überzogenen Regalböden, die Farbdosen, Zementsäcke und Bilderrahmen …
Falls sich der Mann noch immer im Haus aufhielt, kam er wahrscheinlich bald wieder herunter. Mit noch mehr Geschichten … oder noch Schlimmerem.
Luke starrte in das undurchdringliche, schmutzige Dunkel und traf eine Entscheidung.
Er brauchte eine Waffe.
Achtzehntes Kapitel
So etwas wie den perfekten Zeitpunkt gab es dafür natürlich nicht. Aber die frühen Morgenstunden waren für die Arbeit an einer Leiche wohl noch die angenehmsten. Tagsüber hatte ein Tatort etwas Krasses und Schamloses. Irgendwie wurde, wenn Tageslicht auf die Leiche fiel, die Brutalität der Tat noch stärker betont, die Tatsache, dass derartige Dinge passierten, während die ganze Welt ihren Geschäften nachging. Spazieren ging, einkaufte, gelangweilt an Supermarktkassen und Schreibtischen saß, während andere ein paar Meter entfernt zu Tode bluteten und aufgedunsen und starr gefunden wurden.
Nachts konnte Thorne tun, was getan werden musste, und etwas Trost daraus ziehen, dass er einer notwendigen, wenn auch hässlichen Pflicht nachkam, indem er vor dem Morgengrauen aufräumte. An einem schlechten Tag erschien ihm diese nächtliche Schufterei so, als schaufle er Scheiße den Berg hinauf. Aber heute, über die Leiche einer alten Frau gebeugt, während ihre Nachbarn schliefen, hatte er das Gefühl, ein bisschen zu der Glückseligkeit beizutragen, die einem die Unwissenheit gewährte.
Er hatte bereits ein paar Worte mit Hendricks gewechselt, als sie in die Plastikoveralls kletterten. Das Übliche, was man so sagte, bevor man sich an die Arbeit machte.
»Wie geht’s?«
»Gut. Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«
»Doch, aber das würdest du so oder so sagen.«
»Nein, wirklich. Ich hab mich mit Brendan getroffen.«
»Und wie war’s?«
»Na ja, wir haben uns nicht angebrüllt, und ich hab auch nicht versucht, ihm die Nase einzuschlagen. Also wahrscheinlich ziemlich gut …«
Vierzig Minuten später war der Ton geschäftsmäßiger. Es ging um Leichenflecke und Kernkörpertemperatur, Tod durch Ersticken und Totenstarre. Während Hendricks ein paar Anmerkungen in einen kleinen Digitalrekorder diktierte, sah Thorne den Kollegen von der Spurensicherung dabei zu, wie sie sich in Kathleen Bristows kleinem Schlafzimmer bewegten. Wie immer, wenn er sie bei der Arbeit beobachtete, war da diese Irritation, als kratze ihn etwas an seinem Plastikoverall. Im Lauf der Jahre war er draufgekommen, dass es Neid war: Neid auf ihre Sicherheit, auf die wissenschaftlichen Grenzen, die ihnen wohl zu der Gewissheit verhalf, die ihm so fremd war.
Von ihnen stammten die Beweise, die Menschen wie er etikettierten und einordneten und vor Gericht karrten. Ohne diese Beweise hätten sie nichts als bloße Vermutungen und Spekulationen.
»Also von welchem Zeitpunkt reden wir, Phil?«
Hendricks griff nach einer Hand der Toten. Die Haut war gesprenkelt, wirkte in seinen cremefarbenen Chirurgenhandschuhen geradezu bläulich. »Die Starre beginnt zurückzugehen, ich denke, wir sprechen von etwas über
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