Tom Thorne 08 - Die Schuld des Blutes
sehen, die auf den ersten Blick gleich aussahen: ein Querschnitt durch ein Gehirn, grau vor schwarzem Hintergrund mit einem weißen, beinahe perfekt runden Kreis unten.
»Ich habe eines für Sie ausgedruckt«, sagte Kambar. Er öffnete eine Schublade und zog etwas heraus, das wie ein großes Röntgenbild aussah. »Heutzutage sind diese Bilder alle digital und werden auf Festplatten gespeichert, aber ab und zu, wenn’s sein muss, verwenden wir Film.« Er befestigte das Röntgenbild an dem Leuchtkasten über seinem Schreibtisch und studierte es, als habe er es noch nie zuvor gesehen.
»Was ist mit dem Original passiert?«, wollte Thorne wissen.
»So was wie ein Original gab es nicht«, erklärte Kambar.
»Wie gesagt, diese Aufnahmen werden im Computer gespeichert.«
Thorne deutete auf die Fotokopie auf Kambars Schreibtisch. »Und woher stammen die dann?«
»Niemand hätte einen Grund gehabt, eines davon auszudrucken, bevor ich das tat«, sagte Kambar. »Daher vermute ich, dass sie von einem der Bilder stammen, die ich ausdruckte und Raymond Garvey ein paar Wochen vor seinem Tod gab. Jeder Patient hat Anspruch auf Kopien seiner Bilder.« Er folgte Thornes Blick und deutete auf den weißen Fleck. »Die weiße Masse ist natürlich der Tumor.«
Holland trat vor. »Sieht ja riesig aus«, sagte er.
Kambar ballte die Faust. »So groß.«
»Wie lange haben Sie ihn behandelt?«, fragte Thorne.
Kambar spielte mit dem Stift, während er ihnen eine Kurzfassung von Garveys Krankengeschichte vortrug, von der Diagnose über die Behandlung bis hin zu seinem Tod. Holland machte sich Notizen, und Thorne hörte zu, wobei sein Blick gelegentlich zu den Bildern schweifte, die sich vom Lichtkasten abhoben. Dieser einfache weiße Schatten, so rund und glatt, der nach gar nichts aussah.
»Vor dreieinhalb Jahren hatte Garvey in seiner Zelle in Whitemoore so etwas wie einen epileptischen Anfall. Er zog sich eine Kopfwunde an seinem Bett zu. Es stellte sich heraus, dass das nicht das erste Mal war, und man brachte ihn in das zuständige Krankenhaus in Peterborough, wo ein CT gemacht wurde. Die Kollegen dort hatten nur eine äußerst vage Vorstellung, was sie da sahen, aber wir sind mit den meisten Krankenhäusern direkt verbunden, und so konnten wir ebenfalls einen Blick darauf werfen. Wir hatten … mehr als eine vage Vorstellung. Ein paar Wochen später kam er zu uns, und wir machten ein MRT.«
Kambar stand auf und holte das Plastikmodell aus dem Regal. »Er hatte einen riesigen Tumor am Frontallappen. Man nennt das ein gutartiges Meningeom der Hirnhäute.«
»Gutartig?«, warf Holland ein. »Ich dachte, die bösartigen bringen einen um.«
Kambar drehte das Plastikmodell. »Sie bringen einen etwas schneller um, das ist alles. Wenn ein gutartiger Tumor schnell genug wächst, führt der intrakraniale Druck so gut wie immer zum Tod. Deshalb mussten wir operieren. Hier …« Er hob das Modell mit einer Hand hoch und deutete mit der anderen auf nahe nebeneinanderliegende, parallele Streifen. »Hier sind die Geruchsnerven.«
»Geruchsnerven?«, fragte Holland.
Kambar nickte. »Garveys Tumor saß genau hier. Ein riesiges Meningeom im olfaktorischen Kanal.« Er sah zu Holland. »Es ist tatsächlich so, dass Geruchsprobleme häufig eines der ersten Symptome sind. Garvey behauptete, seit Jahren Probleme gehabt zu haben. Brandgeruch oder Benzingeruch wahrgenommen oder gar nichts gerochen zu haben. Zu seinem Leidwesen wurde sein Tumor erst sehr lange nach dem ersten Auftreten dieser Symptome diagnostiziert, als es bereits zu spät war.«
Thorne nahm Kambar das Modell ab und hielt es ein paar Sekunden, bis er sich etwas albern vorkam und es an Holland weiterreichte, damit dieser es zurück ins Regal stellte. »Sie operierten also?«
»Erst nach einigen Monaten«, sagte Kambar. »Der interkraniale Druck wurde immer höher, ohne Frage, aber es bestand kein Grund zu der Annahme, dass sein Leben bedroht sein könnte. Nun ja, es dauerte ein paar Wochen, bis er sich zu dem Entschluss durchrang. Die Operation war sehr riskant.«
»Aber er entschloss sich, es zu wagen.«
»Er hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht«, sagte Kambar. »Besprach sich mit mehreren Menschen, die ihm nahestanden. Nicht dass das sehr viele gewesen wären.«
»Eher unwahrscheinlich, dass ihn viele vermissen«, meinte Holland.
»Richtig.«
»Er starb also bei der Operation?«, fragte Thorne.
»Kurz danach«, sagte Kambar. »Eine extradurale Blutung. Er
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