Tom Thorne 10 - Tödlicher Verdacht
eine oder andere verirrte Ziege einkalkulierte, dachte er, grenzte es beinahe an ein Wunder, dass überhaupt jemand heil hinauf- oder herunterkam.
Er brauchte fast eine Stunde bis nach Ronda und war bereits wenige Minuten, nachdem er das Auto geparkt und begonnen hatte, in Richtung Zentrum der »weißen Stadt« zu gehen, außer Atem. Er blieb auf einer der Brücken stehen und blickte in die Schlucht hinunter, die der Fluss gegraben hatte und über der die Stadt thronte. Die Aussicht war zweifellos spektakulär, und Thorne gab sich damit zufrieden, seine Atemlosigkeit auf den Umstand zu schieben, dass er sich mehrere hundert Meter über dem Meeresspiegel befand, anstatt seine überschüssigen Pfunde dafür verantwortlich zu machen.
Das üppige Frühstück war womöglich ein Fehler gewesen, dachte er.
Er besorgte sich bei einer Touristeninformation einen Stadtplan und bahnte sich mit dessen Hilfe den Weg vorbei an Reihen von kleinen Läden und skurrilen Museen zu der historischen Stierkampfarena, die Fraser erwähnt hatte. Es waren deutlich weniger Touristen unterwegs als in Mijas, was Thorne der Feria zuschrieb. Außerdem herrschte in dieser Stadt eine andere Atmosphäre, eine beinahe ehrfurchtsvolle Stimmung, und es war zweifellos ruhiger hier.
Er zahlte vier Euro und ging durch ein Drehkreuz in die leere Stierkampfarena. Der Sandboden fiel zur Mitte hin ganz leicht ab und war härter, als er erwartet hatte. Auf der anderen Seite machte ein Pärchen Fotos, aber trotz der Anwesenheit der beiden wirkte die Arena seltsam kalt und unheimlich. In ihr schien eine Vergangenheit nachzuhallen, die dafür sorgte, dass Thorne sich unwohl fühlte. Er fragte sich, wie viele Tiere hier schon gestorben waren … und wie viele Menschen. Wie viel Blut im Lauf von zweihundertfünfzig Jahren in dem Boden unter seinen Füßen versickert war.
Wenn man in der Mitte der Arena stand und auf die verschrammten weißen Tore blickte, konnte man sich gut die Hitze und das Grölen der Menge vorstellen. Thorne konnte beinahe das kupferige Adrenalin im Mund derjenigen schmecken, die darauf warteten, den Stieren entgegenzutreten. Er versuchte, die Entfernung zwischen Mitte und Rand zu schätzen, und fragte sich, ob er es dorthin schaffen würde, wenn er vor einem angreifenden Stier fliehen müsste. Er hielt sich noch immer für einigermaßen schnell, wenn es sein musste, zumindest über kurze Strecken.
Er kam zu dem Schluss, dass er nicht einmal die Hälfte schaffen würde.
Dann schlenderte er ein paar Minuten durch das Museum der Stierkampfarena, zeigte dabei aber nur flüchtiges Interesse an den alten Fotos und den an den Wänden befestigten Stierschädeln. Er betrachtete kurz die hinter Glas präsentierten, traditionellen Lichtkleider und fragte sich, weshalb antike Bekleidung immer so klein wirkte, ehe er hinüber zu einer Bar am Rand des Hauptplatzes ging.
Er winkte, um einen Kellner auf sich aufmerksam zu machen, und wurde ignoriert.
Auf dem Tisch lagen einige Handzettel, die andere Sehenswürdigkeiten der Stadt anpriesen. Es herrschte ganz sicher kein Mangel an Museen, aber eine Ausstellung schien grausiger und blutrünstiger als die andere zu sein.
Die Geschichte der Jagd.
Folter während der spanischen Inquisition.
Fünfhundert Jahre Todesstrafe.
Als Thorne die Fotos verschiedener Ausstellungsstücke betrachtete, war er sich nicht mehr sicher, ob Ronda tatsächlich so »schön« war, wie alle behaupteten.
Inzwischen war es heißer geworden, und Thorne drehte sich noch einmal zu dem Kellner um. In der Bar herrschte reger Betrieb. Er ließ den Blick über die anderen Gäste wandern, da er fast damit rechnete, den Mann mit der Zeitung zu entdecken, den er schon zweimal gesehen hatte. Doch als er hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, wirbelte er herum und sah eine noch vertrautere Gestalt.
Thorne konnte nur zusehen, als Alan Langford sich lässig auf den Stuhl ihm gegenüber fallen ließ.
Siebenunddreißigstes Kapitel
»Darf ich?« Langford hob die Hand, und binnen Sekunden erschien ein Kellner am Tisch. Langford sah Thorne an. »Was möchten Sie?«
Thorne schwieg.
Ich möchte dir ein Glas so fest ins Gesicht rammen, dass es keine Rolle mehr spielt, wie du dich nennst, weil dich niemand mehr erkennen wird. Ich möchte es drehen und drücken und spüren, wie es dein Fleisch zerfetzt, und ich möchte dich schreien hören. Ich möchte, dass du meinen Namen sagst, genau wie sie es getan hat …
»Ich habe Lust auf ein
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