Tom Thorne 10 - Tödlicher Verdacht
ihm zuprostete.
Sie saßen eine halbe Minute lang schweigend da. Es war beinahe der Punkt erreicht, dass Thorne fragen wollte, ob sie den Fernseher einschalten sollten.
»Sie war schon komisch, oder?«, sagte Boyle. »Cooks Alte.«
»Ich habe Leute schon seltsamer reagieren sehen«, erwiderte Thorne.
»Oh, ja, ich auch.« Boyle nahm einen großen Schluck Bier und machte es sich in seinem Sessel bequem. Er genoss es ganz offensichtlich, Geschichten auszutauschen. Oder vielleicht auch, sich einfach nur zu unterhalten. »Ein Kumpel von mir hat mal eine gescheuert bekommen, als er die Nachricht überbringen musste. Die Frau ist völlig ausgerastet und hat ihm eine ordentliche Ohrfeige verpasst, als wäre es seine Schuld gewesen.«
»Jeder reagiert anders«, sagte Thorne.
»Ja, genau, so ist es.«
Thorne hatte Menschen auf mehr verschiedene Arten und Weisen auf plötzlichen Tod reagieren sehen, als er zählen konnte. Er hatte erlebt, wie Leute über die schlechten Nachrichten gelacht hatten, als habe Thorne oder der jeweilige Polizist, den er begleitete, einen geistreichen Witz gemacht. Die meisten Menschen brauchten eine Weile, um es zu begreifen, aber er konnte sich an niemanden erinnern, der so ruhig gewesen war wie Pat Cook. Wie sie sich der Realität verschlossen hatte, war beinahe kindlich gewesen, als spielte sie ein Spiel.
»Selbst wenn man es ahnt, haut es einen um«, sagte Boyle.
Thorne nickte. Er spürte, welche Richtung Boyle einschlug.
»Wie bei meiner Anne. Ich meine, in den letzten paar Monaten haben wir andauernd darüber geredet … haben es geplant, weil Annie nichts unerledigt lassen wollte, wissen Sie? Aber dann, ganz am Ende, war es trotzdem … schlimm.« Er nahm noch einen Schluck. »Man meint, man wäre darauf vorbereitet, aber man ist es nicht, das will ich damit sagen. Es fühlt sich trotzdem an, als würde die Welt stehen bleiben.«
»Muss hart für Sie gewesen sein«, sagte Thorne.
»Und ob.«
»Wie alt war …?«
»Sie war zweiundvierzig.« Seine Finger beschäftigten sich mit der Sessellehne, fummelten an einem losen Faden herum, an einem Schmutzfleck oder an nichts. »Das ist kein Alter, oder?«
»Sie scheinen sich aber wacker zu schlagen, Andy«, sagte Thorne. »Ich bin sicher, sie wäre stolz auf Sie.«
»Sie wäre völlig verblüfft .«
»Ich habe das ernst gemeint.«
Boyle leerte seine Bierdose und zerdrückte sie. »Man macht irgendwie weiter, nicht wahr? Schließlich bleibt einem nichts anders übrig.«
Thorne fragte sich, wie die kommenden Wochen und Monate für Pat Cook werden würden. Einigen half es, wenn sie ihre gesamte Energie darauf verwendeten, denjenigen zu hassen, den sie für verantwortlich hielten. Anderen fiel es leichter, sich selbst die Schuld zu geben.
Ich hätte ihn niemals gehen lassen dürfen.
Ich hätte sie abholen sollen.
Hätte ich doch nur, hätte ich doch nur, hätte ich doch nur.
Er fragte sich außerdem, welchen Weg Andrea Keanes Eltern einschlagen würden, nachdem das Justizsystem entschieden hatte, dass Adam Chambers frei herumlaufen, frische Luft atmen und nach Belieben mit jedem über die junge Frau sprechen durfte, die sie verloren hatten. Zumindest hatte ihnen das Gesetz eine Zielscheibe gegeben; vielleicht würde ihnen das helfen.
»Möchten Sie noch eins?«, fragte Boyle und schwenkte die deformierte Dose.
»Ich habe die hier noch nicht ausgetrunken.«
»Stört es Sie, wenn ich mir noch eins hole?«
»Das ist Ihr Haus«, erwiderte Thorne. Er sah Boyle hinterher, als dieser auf die Küche zusteuerte, während er in Gedanken noch bei Andrea Keanes Eltern war und hoffte, dass das, was sich im Gerichtssaal abgespielt hatte, sie nicht langfristig völlig zerstören würde.
Er wusste jedoch, dass diese Hoffnung vermutlich vergebens war.
Ein Mord kostete viele Leben.
Obwohl Anna entgegen aller ihrer Instinkte besonders nett zu Frank gewesen war, hatte er es ihr nicht erlaubt, das Büro auch nur eine Minute vor halb sechs zu verlassen, sodass sie voll in den Berufsverkehr geriet. Sie hatte fast anderthalb Stunden gebraucht, um die acht Meilen von Victoria zu ihren Eltern nach Wimbledon zu fahren. Genug Zeit, um sich zu fragen, warum sie sich überhaupt die Mühe machte.
Und um Mut zu sammeln.
Nachdem sie vor dem Haus angehalten hatte, brauchte sie noch einmal fünf Minuten, bis sie sich bereit fühlte hineinzugehen. Sie blieb im Wagen sitzen und starrte auf ihr ehemaliges Zuhause: ein Haus mit vier Zimmern, einem ansehnlichen
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