Tom Thorne 10 - Tödlicher Verdacht
Garten und Blick über die Gemeindewiese, keine zehn Gehminuten vom All England Club entfernt.
»Das wird eines Tages alles dir gehören«, hatte ihr Freund Rob gesagt.
»Ich glaube, ich bin enterbt worden«, hatte Anna erwidert.
Eigentlich hatte keiner von ihnen beiden gescherzt.
Jetzt wendete sich ihr Vater vom Kühlschrank ab und nahm die Milch mit zum Küchentisch, an dem Anna saß.
»Das muss so eine Art Urinstinkt sein«, sagte sie. »Jedes Mal, wenn ich hier bin, bekomme ich Lust auf Rice Krispies.«
Ihr Vater lächelte. »Ich achte immer darauf, dass ich welche im Haus habe.«
»Danke.«
»Ich frühstücke immer nur eine Scheibe Toast, und deine Mum …«
»Ja, ich weiß. Wenn sie Rice Krispies essen würde, dann sicher nicht mit Milch.« Anna blickte auf und sah den Gesichtsausdruck ihres Vaters. »Blöder Witz. Entschuldige …«
Sie fing an zu essen.
»Sie freut sich bestimmt, dass du gekommen bist.«
»Was?«
»Ich habe ihr gesagt, dass du kommst, und sie wird genau wissen wollen, wie es war, wenn du später wieder weg bist.«
»Wenn sie wieder nüchtern ist.«
»Sie wird mich fragen, worüber wir uns unterhalten haben.«
»Ob ich irgendwas über sie gesagt habe, meinst du.«
Ihr Vater suchte nach Worten, gab jedoch auf und wendete den Blick ab. Er griff nach einem Geschirrtuch, das über der Spüle lag, und fing an, die Arbeitsfläche zu wischen. Anna sah ihm dabei zu und dachte: Dieser Blödsinn macht ihn älter. Das ist einfach lächerlich …
Robert Carpenter war noch ein oder zwei Jahre von seinem sechzigsten Geburtstag entfernt und hatte Vollzeit für eine der größten Steuerkanzleien der Stadt gearbeitet. Seit seine Frau wieder damit begonnen hatte, stark zu trinken, ging er jedoch immer seltener ins Büro, und Anna war sich darüber im Klaren, dass die Geduld seines Arbeitgebers irgendwann an ihre Grenzen stoßen würde. Sie hatte deshalb täglich ein schlechtes Gewissen, obwohl sie ganz genau wusste, dass es nicht ihre Schuld war.
»Sie spricht schon über dich, weißt du.«
Anna ließ ihren Löffel fallen und lehnte sich abrupt in ihrem Stuhl zurück. Sie sah, dass ihr Vater erschrak, war aber zu wütend auf ihn, um darauf Rücksicht zu nehmen. »Du musst wirklich damit aufhören.«
»Womit?«
»In diesem albernen Flüsterton über sie zu sprechen, als wäre sie die Verrückte auf dem Dachboden.«
»Das war mir gar nicht bewusst.«
»Sie hat nicht den Verstand verloren – noch nicht. Sie ist einfach eine sture, bescheuerte alte Kuh.«
»Reg dich doch nicht so auf.«
»Eine sture, besoffene alte Kuh.«
»Bitte hör auf zu schreien.«
»Es ist mir egal, wenn sie mich hört. Wahrscheinlich lauscht sie sowieso. Das heißt, falls sie noch bei Bewusstsein ist.«
Ihr Vater wendete sich wieder dem Wischen zu, gab aber nach etwa einer halben Minute auf. Er warf das Geschirrtuch in die Spüle und setzte sich Anna gegenüber.
»Entschuldige«, sagte sie.
»Schon gut.« Er trug ein schickes Hemd, das er in seine Jeans gesteckt hatte. Als könne er es sich nicht erlauben, sich zu entspannen, dachte Anna. Oder es sich nicht leisten.
»Wie geht’s ihr?«
»Ein bisschen besser, glaube ich. Wir waren letzte Woche ein paar Tage im Lake District. In einem netten Hotel. Schien ihr wirklich zu gefallen.«
»Ist sie nüchtern geblieben?«
Ein halbherziges Lächeln. »Mehr oder weniger.«
»Nimmt sie alle ihre Tabletten?«
»Ich glaube schon, aber ich kann sie nicht ununterbrochen beobachten, weißt du?«
»Ich weiß.« Anna beugte sich vor und tätschelte ihrem Vater den Arm. »Und du darfst dir keine Vorwürfe machen, wenn sie sich eine halbe Flasche Wodka reinschüttet, während du damit beschäftigt bist, den Lebensunterhalt zu verdienen. Dein Leben zu leben .«
Er sah ihr eine Weile beim Essen zu. Sie war beinahe fertig. »Du darfst dir auch keine Vorwürfe machen … für all das. Es ist nicht deine Schuld.«
Anna wollte zu schnell antworten, und ihr lief Milch am Kinn hinunter. Sie lachten beide, und sie nahm einen zweiten Anlauf. »Manchmal fühlt es sich allerdings so an.«
»Du warst nur eine Ausrede«, sagte er. »Die Ausrede, auf die sie gewartet hatte. So ist das bei Abhängigen.«
Anna sah ihn an.
»Ich habe ein paar Bücher darüber gelesen. Es ist immer einfacher für Abhängige, wenn sie behaupten können, jemand anderer hätte sie in den Alkoholismus getrieben oder was auch immer ihr Problem ist. Jemand anderen zu hassen ist einfacher, als sich selbst zu
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