Tonio
ein und nahm neben ihr Platz.
»Wir bringen Sie so schnell wie möglich hin«, sagte die Polizistin, bevor sie die Tür zuschob. »Es ist noch früh, es wird also nicht voll sein auf der A 10. Obwohl … jetzt zu Pfingsten …«
Sie stieg vorn neben ihrem Kollegen ein, der hinters Lenkrad geschlüpft war. Ich zog die zitternde Mirjam an mich. Sie weinte jetzt hemmungslos.
»Unser lieber Tonio … vielleicht ist er schon tot .«
7
D & KA . So lautete seit gut dreißig Jahren, ohne daß sie es wußte, mein ganz persönlicher Kode für die Frau, die ich hinten im Polizeibus an mich drückte.
»Wie kommen diese Reiskörner in die Pasta?«
Dieser Ausruf Mirjams an einem schönen Sommerabend ‘79 hatte alles in Gang gesetzt. » Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will «, schreibt Cees Nooteboom. In diesem Fall konnte es keine reine Willkür des Hundes sein, daß ich auf der Rückbank, diesen zitternden Leib in meinen Armen, an unsere erste Begegnung dachte. Die beiden Polizisten vorne hatten uns mehr oder weniger aus dem Bett geholt, weil es Tonio schlechtgehe – dem Sohn, der schließlich, neun Jahre nach den Reiskörnern in der Pasta, aus uns beiden hervorgegangen war. Das Kind, das sich jetzt in Not befand und zu dem wir in einem Irrsinnstempo schlingernd unterwegs waren.
Nach offizieller Lesart, die ich selbst in die Welt gesetzt hatte, begann alles auf ihrer Geburtstagsfete am 23. November 1979, drei Tage nachdem sie zwanzig geworden war. Wenige wissen, daß sie für mich bereits ein halbes Jahr zuvor die Bildfläche betreten hatte.
Vor Sommerende wollte ich einen kurzen Roman fertig haben. Ich hatte im Frühjahr damit angefangen, in Perugia, wo ich einer jungen Frau namens Mara in die Arme zu laufen hoffte, die ich im Sommer zuvor auf Sizilien kennengelernt hatte. Ich hatte ihre Adresse nicht, nur ihre Telefonnummer, traute mich aber nicht, sie anzurufen – so daß es darauf hinauslief, daß ich Mara zufällig auf der Straße begegnete. Daraus ergab sich viel zu eilig eine schlunzige Romanze, die zumindest meinem Buch schadete. Ich flüchtete auf eine kleine Insel im Trasimenischen See, mit 99 oder 102 Bewohnern, und machte mich an die Arbeit. Bis Ende Juni blieb ich dort. Sonntags kam Mara mit der Fähre. Das war in Ordnung, bissie drängte, ich solle mit ihr und ein paar Freunden die Sommerferien auf Sardinien verbringen. Ich hatte nichts gegen Sardinien, nur gegen sechswöchiges Zwangsgammeln, und das, während der Verleger auf den Text wartete.
So nahm ich den Zug zurück nach Amsterdam und zurück in meine muffige Wohnung im Viertel De Pijp. Es wurde ein heißer Sommer. Abends saß ich vor der offenen Balkontür und arbeitete an meiner Geschichte, bis es zu dämmern begann, ich die Lampen aber nicht anmachen wollte, um keine Mücken anzulocken. Hinsichtlich späten Tageslichts hatte ich Glück: Wo man nach der architektonischen Logik dieses Viertels eine zusätzliche Parallelstraße zwischen der van Ostade, in der ich wohnte, und den Häusern am Sarphatipark erwartet hätte, erstreckten sich die niedrigen Schuppen aller möglichen Kleinbetriebe. Zwei Häuser weiter hatte man hinter einem besetzten Gebäude einen Schuppen abgerissen, und dort hatte sich aus Wildwuchs zwischen Schrott und verrottendem Bauholz so etwas wie ein struppiger Garten entwickelt. An warmen Abenden grillten dort die Hausbesetzer. Eine von ihnen war Hinde, die ich kannte, weil sie mir eines Tages als Dank, weil sie meine Wasserleitung anzapfen durften, einen großen Strauß rosa Teerosen gebracht hatte. Ich wußte, daß sie eine jüngere Schwester hatte, die ebenfalls in das besetzte Haus ziehen wollte, vorläufig jedoch nur ab und an zu Besuch kam.
An einem dieser nicht enden wollenden Sommerabende veranstalteten Hinde und ihre Mitbewohner wieder einen Grillabend, zu dem sie mich ebenfalls einluden. »Meine Schwester kommt auch«, hatte Hinde gesagt, aber ich wußte nicht, ob das als Anreiz gemeint war. Ich schlug die Einladung freundlich aus. Für Geselligkeit war ich nicht aus Italien zurückgekehrt. Ich hätte jetzt, verdammt noch mal, mit Mara und Ivana und den anderen auf Sardinien sein können. Aus der Arbeit wurde an dem Abend nicht viel. Der Grill, ein rostiges Dreibein, entwickelte viel Rauch. Es war, als fungieremein Balkon mit der offenen Flügeltür wie ein Abzugsloch, so daß ich die ganze Zeit mit tränenden Augen über meinen Blättern saß.
»Eine Ratte«, rief ein Junge. »Ich hab
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