Tonio
Mama.«
»Da fliegen ja lauter rote Herzen aus unseren Köpfen.«
»Ja«, rief er lachend, »ihr seid doch verliebt …«
Es war soweit. Hundertmal hatte ich es mir vorgestellt, bis mir übel wurde. Wie die Polizei an die Tür kommen würde, um uns die denkbar schlechteste Nachricht zu überbringen. Ihr Sohn … Und dann waren wir Menschen auch noch imstande, unser der Angst aus Überbesorgtheit dargebrachtes Opfer als heilsames Beschwörungsritual zu betrachten. Wer sich ein Unglück so bis ins Detail auszumalen vermochte, würde davon verschont bleiben.
Letzten Sommer erst, als wir Tonio Geld für einen Urlaub auf Ibiza gegeben hatten, hatte ich mich Nacht für Nacht mit den fürchterlichsten Szenarien gequält, was ihm zustoßen könnte. Die Guardia civil hatte den leblosen Körper eines jungen Mannes in einer Felsspalte gefunden. Er trug keinen Paß bei sich, aber der Nachtportier eines Hotels in Ibiza Stadt erkannte ihn wieder … ob wir, bitte, kommen und ihn identifizieren würden …
Mirjam und ich hatten ihn in Schiphol abgeholt. Ich hatte erwartet, ein braungebrannter Tonio komme in der Ankunftshalle auf uns zu, aber er sah noch blasser aus als beim Abflug – vom nächtlichen Ausgehen und dem Schlafen tagsüber. Aber er war es, und er lebte. Siehst du wohl, es funktionierte: Die gefährliche Wirklichkeit kam nicht an gegen eine noch gefährlichere Vorstellungskraft.
6
Unten, in der Diele, stieß ich auf Mirjam, die unter der Obhut des Polizisten zitternd weinte. Die Katzen, die sich von ihrer anfänglichen Panik erholt hatten, saßen nebeneinander auf dem Flur und fegten mit ihren gesträubten Schwänzen unruhig den Fußboden. Sie blieben ängstlich nah an der offenen Tür zum Wirtschaftsraum, wo ihre Körbe und Freßnäpfe standen und sie notfalls durch die Katzenklappe in den Garten witschen konnten. Wenn es sehr lange und laut klingelte, flüchtete Tygo, der ängstlichere der beiden, manchmal in den Goldregen – so hoch, daß er sich von allein nicht mehr heruntertraute und von Mirjam mit Hilfe der Bibliotheksleiter gerettet werden mußte.
Normalerweise hätten wir Tygo und Tasja bestimmt in der Küche eingesperrt. Jetzt begnügte ich mich damit, die Glaszwischentür sorgfältig zu schließen, damit die Katzen nicht hinter uns herlaufen konnten.
Die Vorderseite des Hauses lag noch im Schatten, und doch wurden wir vom flach einfallenden, grellen Sonnenlicht angesprungen, das auf dem Weg über die Banstraat die Kreuzung und den kleinen weißen Polizeibus entflammte. Eine junge Polizistin, die wartend daneben gestanden hatte, kam mit besorgter, fast ängstlicher Miene auf uns zu und stellte sich vor.
»Mein Kollege und ich bringen Sie jetzt ins AMC «, sagte sie. Und mit ausgestrecktem Zeigefinger: »Dort steht der Bus.«
Offenbar in Erwartung eines warmen Tages trug auch sie ein kurzärmeliges Hemd, dessen Ausschnitt ein dunkelblauer Schal bedeckte. Sogar jetzt speicherte ich solche Details, und das auch noch mit dem beinahe durchtriebenen Hintergedanken an Kwaadschiks , in dem mehrere weibliche Polizeibeamten vorkamen. (Merken: Dekolleté bedeckt mit Schal. Auch Polizistin mit Unglücksauftrag trägt am Gürtel Handschellen neben Etui mit Pfefferspray.) Der kleine Bus, dessen Schiebetür offenstand, trug die bekannten roten und blauen Streifen, die Tempo suggerieren mochten. So war es in meinem Manuskript zu lesen.
»Sie steigen am besten hinten ein«, sagte die Frau.
Ich wandte mich an ihren Kollegen: »Wissen Sie, was passiert ist?«
»Soweit wir wissen, Mijnheer, ist Ihr Sohn heute morgen gegen halb fünf von einem Auto auf der Stadhouderskade angefahren worden. In der Nähe vom Max Euweplein. Man hat uns mitgeteilt, daß er in kritischem Zustand auf der Intensivstation des AMC liegt. Er wird im Moment operiert. Mehr wissen wir nicht. Außer daß der betreffende Autofahrer noch vernommen wird. Auf der Wache Koninginneweg. Von dort sind wir gerade losgefahren.«
»Dann kam er wahrscheinlich aus dem Paradiso«, sagte ich, mehr zu mir selbst. Und wieder zu ihm: »Kann es sein, daß er von der Fahrradbrücke da über die Singelgracht auf die Stadhouderskade gefahren ist?«
»Uns sind keine Einzelheiten bekannt, Mijnheer. Nur daß der betreffende Fahrer nach der Kollision nicht weitergefahren ist. Er hat sofort die Polizei gerufen.«
»Adri, steig jetzt ein , ich bitte dich«, sagte Mirjam kläglich. Sie saß bereits auf der Rückbank. »Sonst ist es vielleicht zu spät.«
Ich stieg
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