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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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weit vorschoß und ihr Rad an der Wand von Nummer 207 abstellte.
    Als ich mich, jetzt selbst über den verbreiterten Bürgersteig vor dem Schulgebäude gehend, noch einmal umsah, beugte sie sich über ihr Rad, um das Kettenschloß durch die Speichen zu ziehen. Die Vorderseite des viel zu weiten Regenmantels hing bis auf den Boden, tatsächlich wie ein Kohlensack, so schwarz und formlos. Diese Molligkeit, na schön, war etwas zuviel des Guten, hübsch war das Mädchen trotzdem. Aber dieser Sack, entschied ich, damit mußte Schluß sein. Sie beleidigte sich selbst damit – und mich dazu, obwohl sie noch lange nicht D & KA war.
    Um so ärgerlicher, daß ich sie in den darauffolgenden Monaten nicht wiedersah. Jetzt mußte ich sie mir, zumal bei nassem Herbstwetter, in diesem schmutzigen Regenmantel vorstellen, ob ich wollte oder nicht.
9
     
    Die Utrechtsebrug. So dreckig und unergründlich das Flußwasser bei tiefhängender Bewölkung aussehen konnte, jetzt, in der Morgensonne, wirkte die Amstel völlig glatt und wie silberbeschichtet. Das grelle Licht entzog der Umgebung die Farbe, wodurch alles im gleichen milchigen Blau badete.
    Die Brücke war stets der letzte Meilenstein unserer Ferien im Süden gewesen. Oft hatten Tonio und ich schon bei der Abreise aus der Dordogne oder aus Lugano darüber gesprochen: Am anderen Ufer der Amstel ragte für ihn das mannshohe K‘NEX -Riesenrad auf, das er, wenn er wieder zu Hause war, nachbauen wollte. Für mich verkörperte die Utrechtsebrug die Verheißung der baldigen Wiedervereinigung mit meinem Papierkram im dritten Stock. So konnten wir während der Hunderte von Kilometern langen Autofahrt, jeder für sich, diesen Zugang zur Stadt herbeisehnen.
    Für Mirjam bedeutete die Brücke das Ende stundenlangen konzentrierten Chauffierens. Sie äußerte sich nie groß zu ihrem Leben nach einem Urlaub. Ja, wieder zu Hause sein, darüber ging nichts.
    Auf der Vorderbank des Busses unterhielten sich die beiden Polizisten über den genauen Weg zum AMC – als ob sie den nicht blind gefunden hätten. Die Frau schärfte ihrem Kollegen ein, er solle auf das Schild mit der Ausfahrt AMC achten, aber bis dahin sei es noch ein ganzes Stück. Sie waren jung, noch nicht lange von der Polizeischule weg. Es war ihnen nur recht, daß sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Verkehr richten konnten: So brauchten sie sich nicht um uns zu kümmern.
    Zwischen ihren Sitzplätzen und unseren befand sich eine leere Mittelbank, hinter deren Rückenlehne wir leider nicht ganz verschwinden konnten. Mit beiden Armen hielt ich Mirjam bis zum Ersticken fest an mich gedrückt. Ich gabhalbherzig beruhigende Laute von mir, wußte aber nicht, was ich sagen sollte. Daß es nicht so schlimm sein würde? Aus welchem Grund?
    In kritischem Zustand . Ich war unaufhörlich, fieberhaft, damit beschäftigt, diese Aussage zu analysieren. Seit Mirjam diese drei Worte in Panik ausgerufen und der Polizist sie mit professioneller Ruhe wiederholt hatte, schwankte ihre Bedeutung ständig. Im einen Augenblick kündigten sie das Unvermeidliche an, im nächsten hatten sie auf einmal etwas Beruhigendes. Erst neulich war in den Fernsehnachrichten der Zustand eines Opfers als kritisch bezeichnet worden. Zwei Tage später berichtete eine Zeitung, es sei außer Lebensgefahr.
    »Unser Tonio«, sagte Mirjam leise. »Vielleicht ist es schon zu spät.«
    »Nein, Minchen, das darfst du nicht denken.«
    Kritisch war kritisch und nichts anderes. Kritisch bedeutete nicht: tot. Nicht einmal: so gut wie tot. Kritisch hieß: Leben (solange das Gegenteil nicht bewiesen war). Kritisch, diesen Zustand galt es zu überwinden.
    Mirjam schluchzte, aber es war kein hysterisches Weinen. »Ich spüre , daß wir zu spät kommen.«
    »Ich verbiete dir, das zu sagen.«
10
     
    D & KA : die und keine andere. Also los, nun, da ich mich für diese Frau (dieses Mädchen) entschieden hatte, würde ich ihr auch etwas zeigen. Schöne Dinge für sie machen: aufklappende Papierschachteln voller Visionen und Geschichten, aber ich würde damit auch tatsächlich existierende Welten für sie öffnen. Das hohe Gitter rund um das efeubewachsene Haus. Den Draht um den Champagnerkorken. Den Salzmantel um die rosa gebratene Lende.
    Den Schlagbaum zum Paradies.
    Als ich von ihren Eltern erfuhr, daß sie seinerzeit überlegt hatten, die zweite Tochter nach ihrer deutschen Großmutter »Minchen« zu nennen, probierte ich, anfangs neckend, diesen Namen immer wieder an ihr aus. Etwas zu

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