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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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oft vielleicht, denn mit der Zeit wollte er nicht mehr von meiner Zunge weichen. Es ist bei Minchen geblieben.
    Allerdings … etwas stimmte nicht, was mir noch bös aufstoßen könnte. Zu jung. Gerade mal zwanzig geworden. Ihre Jugend, um es feierlich zu sagen, hatte sich nicht austoben können. Eines Tages würde sie entdecken, daß sie sie nur mit mir geteilt hatte … daß manche geheimen Dinge in ihr nicht zur Entfaltung gelangt waren …
    Das unstete Leben, das ich jahrelang geführt hatte, war nicht von heute auf morgen zu beenden. Amsterdam, das bedeutete rumgammeln, ausschlafen, wenig tun. Die Unannehmlichkeiten des Reisens, die brachten mich zum Arbeiten. Ich schrieb in Nachtzügen, in illegalen kleinen Pensionszimmern, auf zugigen Bahnsteigen zwischen zwei Paletten voller Kisten mit piepsenden Küken: ungewohnte Musik für den späten Abend.
    Im Januar ‘80, kurz nach unserem Florentiner Abenteuer, nahm ich wieder den Zug nach Neapel und von dort die Fähre nach Ischia. Bei der Rückkehr im Februar, auf dem Hauptbahnhof, lernte ich die Lähmung kennen, die Mirjam bei einer Begrüßung nach langer Abwesenheit befiel (eine Wiederholung der Abschiedslähmung einen Monat zuvor). Das hing vermutlich mit der Verlassensangst zusammen, die ihre Familie permanent quälte, kleines Geschenk der Geschichte.
    Ende März fuhr ich nach Kalabrien. Vom Zeh Italiens aus reiste ich die Küste entlang nach Norden, wobei ich jedes Dorf erkundete, bis ich in Positano an der Amalfiküste ein traumhaft gefliestes Hotelzimmer fand, bei dem ich das Gefühl hatte: Hier gelingt es . Jedes Telefongespräch mit Mirjam kostete mich zehntausend Lire.
    »Minchen, Ende Mai hole ich dich ab. Dann bleiben wir hier noch einen Monat.«
    Ging es nur darum, in der Abgeschiedenheit zu arbeiten? Oder war es schon damals so, daß ich mein Glück von Zeit zu Zeit aus großer Entfernung betrachten wollte, am liebsten durch ein umgedrehtes Fernglas? Wie dem auch sei, später wurde es zur Routine.
    Wenn ich an mich zurückdachte in jener Zeit … Immer mit umfangreichen Manuskripten zugange. Alles für sie. Der Größenwahn endete nicht beim beschriebenen und bedruckten Papier. Der junge Schriftsteller wollte nach jedem Buch besser wohnen. Es folgte ein langer Marsch durch die Architektur der angesagten Viertel – auf dem Weg zum Palazzo, zum Landhaus, zum spanischen Schloß. Ich führte ihr meine Kunststücke vor und machte offenbar etwas falsch. Ich griff zu hoch. Ich schüchterte sie ein wie ein Kind, das einen zu großen Bären aus dem Geschenkpapier wickelt.
    Mit ihr gelang mir alles. Mirjam war eine Muse bis in die kleinsten Haushaltsdinge. Ohne ihr Zutun hätten wir nicht jedesmal ein besseres Haus gehabt. Ein Generalschlüssel, diese Frau, mit dem alle Schlösser aufgingen.
    Sie sorgte dafür, daß ich meine Arbeiten abschloß, einfach durch ihre Gegenwart. (Mehr war auch nicht nötig.) Nur ein Kind, davon wollte sie nichts hören. Ich konnte bitten und flehen, soviel ich wollte.
    »Wie alt bin ich denn? Laß mich doch erst mal mein Studium beenden.«
    Obwohl die Ärzte nichts finden konnten, fühlte ich mich krank und erschöpft und schmeckte, wie Mozart es zuletzt ausgedrückt hatte, »den Tod bereits auf der Zunge«. Das Leben in ein Kind überströmen zu lassen wurde immer mehr zu einer Obsession. Ich tat ihr leid, das schon, doch selbst wenn ich tot zu ihren Füßen niederfiele, sie ließ sich nicht erweichen.
11
     
    Im Frühjahr 1982 begegneten wir bei Spaziergängen im Vondelpark ein paarmal einer jungen Frau, die ich vom Sehen kannte und sie mich offenbar auch. Sie schob einen Kinderwagen vor sich her und grüßte ausdrücklich mich, nicht Mirjam. Ein Name wollte mir nicht einfallen, aber ich kam zu dem Schluß, daß ich sie aus meiner Studienzeit in Nimwegen kannte. Vielleicht hatten wir im selben Studentenheim gewohnt. Von Bedeutung war der Kinderwagen. Als ich bei einer dieser zufälligen Begegnungen neben Mirjam auf einer Parkbank saß, hatte ich beobachtet, wie die namenlose Bekannte sich liebevoll über das für uns unsichtbare Baby gebeugt und mit der Hand unter das Verdeck gegriffen hatte, möglicherweise um die Decke zurechtzuziehen. Ich schließe nicht aus, daß sie vor unserer Bank stehengeblieben war, um mit uns ins Gespräch zu kommen, doch das geschah nicht. Mit einem lächelnden Kopfnicken in meine Richtung ging sie weiter, überglücklich.
    Als die Frau außer Hörweite war, brach alles noch einmal aus mir heraus: als

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