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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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eine Ratte gesehen … da, bei den Kisten.«
    »Die kommt auf den Grill.« Hindes Stimme, ich erkannte sie bereits. Gelächter aus der Tiefe.
    »Wie kommen diese Reiskörner in die Pasta?« Eine Stimme, die entfernt Hindes Stimme glich: Das mußte die Schwester sein.
    »Aus dem Salzfäßchen«, rief Hinde. »Der Deckel ist abgegangen.«
    Weil der Wind offenbar in meine Richtung wehte, machten mir vermutlich die Würstchen und Hühnerkeulen auf dem Grill den Mund wäßrig, aber es waren vor allem die hellen Stimmen in der Abenddämmerung, die mich bedauern ließen, nicht dort unten zu sein, wo es von Ratten und Mädchen wimmelte und ich mit Appetit ein Gemisch aus Makkaroni und Reis gefuttert hätte. Ohne ernsthaft etwas zu tun, hörte ich mir das Reden und Lachen an, das Gläserklirren beim Anstoßen, bis die Fledermäuse über den Schuppen herumflatterten und es ohne Lampe wirklich zu dunkel wurde, einen Buchstaben zu Papier zu bringen.
    Möglicherweise spürte ich wegen der scharfen Manöver des Polizeibusses ein leises Gefühl von Übelkeit in meinem Zwerchfell, doch wahrscheinlicher ist, daß es von der Erinnerung an das Verlangen jenes Sommerabends verursacht wurde. Später hatte das Verlangen eine Zukunft bekommen: Mirjam und ich … ich, Mirjam und Tonio … Aber auch das war Teil jener Zukunft: daß wir jetzt auf dem Weg ins Krankenhaus waren, um zu erfahren, wie kritisch der Zustand unseres Jungen war. Ob er eine Chance hatte. Ob er noch lebte.
8
     
    D & KA . Im Spätsommer oder Frühherbst ‘79 erhielt eine der Grillabendstimmen aus dem Hintergarten ein Gesicht.
    Das besetzte Haus, van Ostadestraat 205, grenzte an eine Grundschule, an deren Rückseite ein Spielplatz war und an der Vorderseite ein verbreiterter Bürgersteig, auf dem abholende Mütter auf ihre Sprößlinge warten konnten. Hier sah ich sie, wie sie sich mit einem Omafahrrad zwischen Grüppchen sich unterhaltender Frauen hindurchschlängelte, von denen einige demonstrativ einen Schritt beiseite traten und sie mißbilligend anstarrten. Den linken Fuß auf dem Pedal, stieß sie sich wie auf einem Tretroller mit dem rechten Fuß ab, was für die Fußgänger genausoviel Belästigung bedeutete wie normales Fahrradfahren, für sie aber den Unterschied machte, daß die Polizei sie nicht anhalten würde.
    Ich zog gerade die Haustür von Nummer 209, wo ich wohnte, hinter mir zu. Ich kann mich nicht erinnern, ob Niederschläge drohten oder vorhergesagt waren, jedenfalls trug das rollernde Mädchen einen Regenmantel, und der war ihr um etliche Größen zu weit und zu lang. Das Kleidungsstück, von männlichem Schnitt, mußte einmal beige gewesen sein, war jetzt aber von einer erschreckenden Schmuddeligkeit, die sogar in dieser Umgebung besetzter Abrißhäuser und halb verrotteter Lieferfahrräder im Rinnstein auffiel. Vor allem die Vorderseite war schmutzig, voller bizarrer Ringe, während der Stoff um die Knöpfe nahezu schwarz war, als habe der Mantel einem Kohlenhändler als Schürze gedient.
    Ich hätte achselzuckend darüber hinweggesehen, hätte nicht über dem speckig glänzenden, ebenfalls fast schwarzen Kragen, der ganz zugeknöpft war, so ein hübsches Köpfchen gesessen. Offenes dunkles Haar um ein leicht gebräuntes Gesicht, das dennoch den Eindruck von Blässe machte, vielleicht durch die dunklen, nicht einmal geschminkten Augen (was bei so einem Mantel auch komisch ausgesehen hätte).Wegen des viel zu weiten Kleidungsstücks konnte man ihre Figur nicht richtig erkennen, doch aus einer gewissen Rundheit von Kinn, Hals und Wangen ließ sich ableiten, daß das Mädchen eher mollig war.
    Sie besaß keine auffallende Ähnlichkeit mit Hinde, und doch sah ich sofort, daß die beiden Schwestern sein mußten, wobei diese die jüngere war. Ich schätzte sie auf achtzehn.
    Als sie mich sah, glitt bloß ein schwacher Schatten des Erkennens über ihr Gesicht. Möglicherweise erkannte sie mich genausowenig wie ich sie und glaubte nur zu wissen, wer ich war, weil ich aus dem Haus kam, das dem besetzten Haus ihrer Schwester fließendes Wasser lieferte. Sie grüßte mich mit einem ebenso verlegenen wie distanzierten »hallo«, das ein wenig fragend klang und schlecht zu dem arglos breiten Lächeln (eher eine Art sanften Grinsens) paßte, das sie mir als Antwort auf meinen Gruß zusandte. Nach meinem Gefühl sah sie mich im Vorbeifahren etwas zu lange an (was bedeutete, daß ich das gleiche tat), wodurch sie, sich weiter mit einem Fuß abstoßend, etwas zu

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