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Tonio

Tonio

Titel: Tonio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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an den Ringen macht. Der Interviewer, der Enthüllungen »über früher« witterte, lud ihn auf ein Glas ein. In der Kneipe sah mein ehemaliger Klassenkamerad seine Chance gekommen, diesen Amsterdamer Journalisten zu demonstrieren, daß sich auch in der Provinz das Drama zusammenbraute und die Verlockungen sich wie Nattern durchs Gras schlängelten. Wie oft sei es ihm in der Schule passiert … Liebesbriefchen in seinen Manteltaschen … »Verdammt noch mal, Mann, fünfzehn-, sechzehnjährige Mädchen. Ich sag‘s dir!«
    Zugegeben, so hatte man was von seinen imposanten eins zweiundneunzig, trotz des schwammiger werdenden Waschbrettbauchs. Es kostete mich später, nachdem ich den Textentwurf gelesen hatte, viel Überredungskraft, damit einige Riesendummheiten des Sportlehrers aus dem Interview gestrichen wurden – zu seinem Vorteil.
    Ich regte mich schon wieder auf, merkte ich. Niemand – niemand , wohlgemerkt – durfte sich über Tonio wegen seiner äußeren Erscheinung lustig machen. Da hatte ich‘s wieder. An nichts ließ sich die Unvorstellbarkeit seines Todes besser erkennen als an meiner Wut über schäbige Leute, die ihm mit herabsetzenden Bemerkungen weh tun könnten . Doch wenn ich mir Dennis so ansah, fühlte ich, wie meine Empörung verebbte. Ich mußte auf der Hut sein, das schon, aber nicht vor diesem sanftmütigen Jungen mit dem offenen Blick. Dennis breitete die Arme aus und sagte: »Mir fehlen immer noch die Worte. Tonio war …«
    »Studierst du auch?«
    »Ich lerne jeden Tag dazu … als Tontechniker. Ich kümmere mich um den Sound für ein paar Popgruppen.«
    »Du spielst doch auch Schlagzeug?«
    »Nicht mehr in einer festen Band.«
11
     
    Ich nutzte Mirjams Abwesenheit, um Dennis zu fragen, ob er sich in der letzten Woche in der Totenhalle Tonios aufgebahrten Leichnam angeschaut habe. (So eine Frage – und ich stellte sie ihm einfach!)
    »Ja, klar.« Er nickte mit dem ganzen Oberkörper. »Zusammen mit vier, fünf Mann. Wir sind mit dem Fahrrad hin. Da war auch ein Mädchen dabei. Sie wollte erst nicht, ist dann aber doch mitgekommen. Toll.«
    »Doch nicht das Mädchen von dem Fotoshooting?«
    »Nein, die nicht«, sagte Dennis. »Die hat nicht zu unserem Freundeskreis gehört. Ich bin ihr jedenfalls nie begegnet.«
    »Ich muß gestehen«, sagte ich, »Mirjam und ich sind nicht mehr hingegangen. Als wir im AMC Abschied von ihm genommen haben … als sie die Beatmung gerade abgeschaltet hatten und er eigentlich schon tot war … da hatte er noch sein eigenes Gesicht. Das Gesicht, das wir kannten. Kurz davor war es noch lebendig gewesen. So sollte er uns in Erinnerung bleiben. Wir hatten beide Angst, daß er, aufgebahrt, ganz anders aussehen würde.«
    »Er war noch ganz derselbe«, sagte Dennis. »Ganz Tonio. Wie wir ihn gekannt haben.«
    Ich wußte, daß er uns wegen unseres Fernbleibens nicht kritisieren wollte. Trotzdem durchfuhren mich Schreck und Schuld. Wenn es stimmte, was Dennis behauptete, dann hatten wir Tonios Leichnam all die Tage, eindeutig erkennbar als der seine, ungesehen und mutterseelenallein in einem offenen Sarg liegenlassen. Nur vier oder fünf Freunde hatten den Mut aufgebracht, einen letzten Blick auf ihn zu werfen. Das Gefühl des Verrats, das ich die ganze Woche Tonio gegenüber empfunden hatte, war vielleicht doch nicht unberechtigt gewesen. Vielleicht hätte ich jede Stunde zwischen Aufbahren und Einsargen bei ihm wachen sollen, sein bis zur Unkenntlichkeit zerfallendes Gesicht hinnehmend – diesesliebe, hübsche Gesicht, das jetzt für immer durch Deckel und Erde den Blicken entzogen war und sich nur noch bruchstückhaft aus Fotoalben rekonstruieren ließ.
    »Sag mal, Dennis« – ich versuchte, meine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen – «hatte Tonio im Sarg ein rotweiß gestreiftes Hemd an?«
    »Ja«, sagte Dennis breit lächelnd, als sei er froh, mir einen Gefallen tun zu können. »Sein Lieblingshemd. Sein cooles Hemd. Das hatte er an.«
    »Ah, es hat ihm also doch gepaßt«, sagte Mirjam, die mit einem Tablett ins Zimmer trat. »Da waren wir uns nicht sicher, weil … er durch die inneren Blutungen so angeschwollen war.«
    Ich dachte daran, behielt es aber für mich, daß sie das Hemd, sein stolzes Hemd, vielleicht am Rücken hatten aufschneiden müssen, damit es paßte. Ich erinnerte mich auch, daß die Dame von dem Bestattungsunternehmen gefragt hatte, ob sie Tonio rasieren sollten. Ja, er soll rasiert werden, hatten wir gesagt.
    »War es

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