Tonio
vorausbezahlten Beitrags zurück: der soundsovielte unumstößliche Beweis, daß Tonio nicht mehr lebte.
Jemanden aus der Welt streichen zu lassen war gar nicht so einfach. Manche Verwaltungen gaben ihn nicht ohne weiteres frei.
Mirjam studierte noch einmal genau die Karte mit den Zahnkontrollen, die wir in seinem Portemonnaie gefunden hatten. Sie blickte auf ihre Uhr: Heute, in einer Stunde, hatte er einen Termin. Mirjam rief die Zahnärztin an, die auch die unsere war. Die Todesanzeige war ihr entgangen. Sie frage sich gerade, gestand sie, ob Tonio diesmal ausnahmsweise erscheinen würde.
»Er war so ein lieber Junge«, sagte sie. »Ich konnte nie böse auf ihn sein. Na ja, bis auf dieses eine Mal. Da habe ich mit ihm geschimpft, weil er seine Zähne so schlecht putzte. Zwei Monate später kam er mit einem perfekt gepflegten Gebiß wieder.«
Abends bekämpften wir den Schmerz passiv mit Alkohol.
9
Pünktlich um vier, dem vereinbarten Zeitpunkt, klingelte es – mit diesem durch Mark und Bein gehenden Geräusch, das seit zwei Wochen die Erkennungsmelodie des abwesenden Tonio war. Wir hatten es noch immer nicht geschafft, vonder Firma Brom eine freundlichere Klingel installieren zu lassen. Zum Beispiel ein Dingdong. Mirjam erinnerte mich daran, daß wir hier vor achtzehn Jahren mit einem elektrischen Glockenspiel begonnen hatten, ganz dem Geschmack des Vorbesitzers, Pornobaron P. K. Roukema, entsprechend, der dem Makler zufolge »Kunststoffwaren mit spezifischer Anwendbarkeit« an den Mann brachte, um sein Haus mit Kitsch vollstopfen zu können. Das Glockenspiel bestand aus Messingröhren verschiedener Länge und Tonhöhe. Die Maler hatten es vorübergehend entfernt, als die Wände in der Diele neu verputzt werden mußten. Dabei war die Mechanik irreparabel zerstört worden. Die Firma Brom hatte eine elektrische Klingel installiert, die zwar bis ins Dienstbotenzimmer im dritten Stock zu hören war, nun aber schon seit achtzehn Jahren unsere Nerven attackierte und zwei Generationen von Katzen das Leben schwergemacht hatte.
»Ein Glockenspiel«, schlug Mirjam vor, »damit es wieder klingt wie zu Beginn.«
Ich hatte schon fast zugestimmt, erinnerte mich aber noch rechtzeitig an eine entscheidende Szene aus Wer hat Angst vor Virginia Woolf , dem Film. Als George sein Haus betritt, ertönt genau so ein Glockenspiel, wie P. K. Roukema es uns hinterlassen hatte. (G. K. van het Reve spricht in seiner Übersetzung des Stücks von »gongstaven«, »Gongstäben«). George verbindet den Klang mit Kirchenglocken, denn er wird seiner Frau Martha gleich die Nachricht überbringen, daß ihr Sohn, vom Internat auf dem Weg nach Hause, um seinen zwanzigsten Geburtstag zu feiern, in einem Auto verunglückt ist, das einem Igel auszuweichen versuchte. Der Junge, so stellt sich heraus, ist ein Phantasiegeschöpf der beiden, deren Ehe kinderlos geblieben ist. George glaubt, das Recht zu haben, den Jungen für tot zu erklären, weil Martha, indem sie Dritten gegenüber von ihrem Sohn gesprochen hat, eine heilige Abmachung verletzt hat. Während Martha (»Du hattest nicht das Recht, George«) von den spätnächtlichen Gästen getröstet wird, zelebriert George, lateinische Worte murmelnd, ein Requiem in der Hausbar.
So würde ich bei jedem Erklingen des Glockenspiels noch mehr an Tonio denken müssen als beim Vernehmen der wie eine Kreissäge heulenden Klingel, die am Pfingstsonntag vom Zeigefinger eines Polizeibeamten berührt wurde. Damit hörte die Assoziation mit Wer hat Angst … aber noch nicht auf. Tonio war zu einem Teil, wie andere Kinder, die dem Elternhaus den Rücken gekehrt hatten, eine Schöpfung seiner Eltern, ihrer Vorstellungskraft. In unseren Gesprächen wurde sein Leben in unserer Mitte ergänzt, während er sich physisch woanders befand.
Der große Unterschied bestand darin, daß ich nicht, aufgrund zuvor festgelegter Spielregeln, die Macht besaß, über sein Leben und seinen Tod zu bestimmen.
10
Mirjam fragte über die Wechselsprechanlage vorsichtshalber, wer an der Tür sei (man stelle sich vor, es wäre wieder so ein halb betrunkener Idiot aus der Kneipe in der Nähe, mit einem als Trost gemeinten doppelten Schnaps in einem Colaglas unter der Jacke, wie der Pfarrer früher mit einer geweihten Hostie für den Kranken, in einer Puderdose zwischen zwei Knöpfen seiner Soutane verborgen).
»Dennis.«
»Ich mach auf«, sagte Mirjam. »Drück die Tür bitte gut hinter dir zu, ja?«
Von meinem Platz in der
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