Tonio
vertrauten, durchgesessenen Ecke der Wohnzimmercouch aus konnte ich hören, wie das Haustürschloß summend aufsprang. Der Besucher mußte lange Beine haben, denn er nahm drei Stufen auf einmal. Herein kam in der Tat ein junger Mann von beachtlicher Größe, gesund keuchend. Auf seinen Schultern tanzten blonde Siebzehntes-Jahrhundert-Korkenzieherlocken, docheine dreiviertellange Radlerhose und ein silbernes Piercing in der rechten Augenbraue brachten ihn sofort ins einundzwanzigste Jahrhundert zurück.
Ich erkannte ihn vage wieder und erinnerte mich mit einemmal, daß Tonio mir irgendwann, vor ein paar Jahren, auf dem schummrigen Flur vor dem, was damals noch sein Zimmer war, diesen Dennis vorgestellt hatte – ebenso stolz wie linkisch. Dennis mußte in der Zwischenzeit einen ordentlichen Schuß gemacht haben, denn in meiner Erinnerung war er nicht besonders lang. Ein größerer Kontrast zum dunkel- und glatthaarigen Tonio, zu Lebzeiten eins dreiundsiebzig groß, war kaum denkbar. Auch nicht in puncto Motorik. Tonio bewegte sich, im Nacken leicht gekrümmt, gehetzt und ruckhaft. Einer wie Dennis wußte, daß er mit seinen langen Stelzen auch in zähflüssiger Trägheit immer noch schnell genug vorankam, um rechtzeitig am Ziel zu sein.
Mirjam, die klein hinter dem Besucher stand, fragte, was er trinken wolle. Ich hoffte, er würde sich für etwas Alkoholisches entscheiden, denn dann durfte ich auch. Dennis wollte Tee. Mirjam verschwand in die Küche. Ich zeigte Dennis den Platz auf der Eckcouch, auf dem Tonio immer gesessen hatte. Er sah mich an mit seinem großen, offenen und freundlichen Gesicht. Helle, dicht bewimperte Augen. Dennis war einer von Tonios drei besten Freunden gewesen. Die beiden anderen waren Jonas und Jim.
Als ich den langen jungen Mann vor mir sah, fragte ich mich, ob Tonio unter seiner geringen Größe gelitten hatte. Uns, seinen nicht sonderlich großen Eltern, hatte er nie die Gene vorgeworfen, die wir ihm weitergegeben hatten – wenngleich ich natürlich nicht wußte, wie er sich dazu außer Hörweite seines Vaters und seiner Mutter äußerte. Ich fuhr drei Jahre lang täglich auf dem Fahrrad mit einem großgewachsenen Klassenkameraden zur Schule, der mir an jedem einzelnen Tag bestimmt einmal unter die Nase rieb, daß ich mit meinen eins sechsundsiebzig »viel zu klein« für meinAlter sei. Der Junge deutete an, daß zwischen Körpergröße und einem positiven Erscheinungsbild ein wichtiger Zusammenhang bestehe, vor allem im Hinblick auf »die Frauen«. Nach seinen eigenen Worten war er also im Vergleich zu mir »schwer im Vorteil«. Wenn ich zur Seite blickte und sah, wie er seine Absätze mit auswärts gerichteten Füßen auf die Pedale setzte, konnte ich keinen Ausbund an Anmut in ihm erkennen. Er selbst hielt sich für athletisch, war aber ein hirnloser Kraftheini, der mich seine Aufsätze schreiben ließ. Die Sportskanone schaffte die Schule mit Ach und Krach, besuchte die Akademie für Leibeserziehung und wurde Sportlehrer. Jahre später lief ich ihm noch mal über den Weg. Ich hatte ihm nach wie vor nicht mehr als meine (inzwischen) eins siebenundsiebzig zu bieten, während er mittlerweile noch besser proportioniert war und vor Männlichkeit und Fruchtbarkeit nur so strotzte. Er war verheiratet, allerdings ohne Kinder, denn, siehst du, sie seien beide nicht zu bremsen in ihrer Reiselust, und das wiederum hänge mit ihrem Status als Naturfanatiker zusammen. Während der Schulferien reisten sie in Länder, in denen sie der Wildnis näher sein konnten, wo Tiere sich noch in freier Wildbahn beobachten ließen. (So hätten sie einmal im Amazonasgebiet auf einer Plattform hoch oben auf einem Regenwaldbaum übernachtet, wo sie frühmorgens von einem echten Affen geweckt worden seien, der über einen ihrer Schlafsäcke gepinkelt habe, na ja, nur ein paar Tropfen.) Kurzum, er gehörte zu dem Menschenschlag, der sich als Naturmensch bezeichnet, weil er keine Fernsehdoku über Wildreservate ausläßt und im Sommer an der Eisenbahnlinie Brombeeren in ein Körbchen pflückt.
Trotz seines Hangs zum Urwald wohnte der Sportlehrer noch immer in seinem Dorf. Als ich dort einmal Mitte der neunziger Jahre mit einem Interviewer und einem Fotografen hinmußte für eine »Stimmungsreportage« über das triste Reich meiner Jugend, begegnete ich ihm zufällig. Er saß auf dem Fahrrad in einem pfauenblauen Trainingsanzugund kam gerade aus der Schule, wo er Kindern beigebracht hatte, wie man »Vogelnester«
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