Tonio
ich das nächste Mal wach wurde, befand sich eine Handvoll Besucher in der Halle. Ein Mann und eine Frau sangen »Mexico« von der Zangeres Zonder Naam (Sängerin Ohne Namen), mit einem Pathos wie in einem Opernduett. Ohne daß erneut geklingelt worden wäre, öffnete ich die hohe, breite Tür noch einmal. Die Sonne mußte inzwischen, wenn auch für mich noch nicht sichtbar, aufgegangen sein, denn über den Häusern und Bäumen lag ein weiches, kupferrotes Licht. Draußen war noch immer kein Mensch zu sehen. Die Tür fiel schaukelnd ins Schloß.
Das Warten, wußte ich, galt Tonio.
14
»Auch was Stärkeres?« wollte Mirjam wissen.
»Nur der eine Schuß Tequila von Tonio«, sagte Dennis. »Zwischendurch.«
»Und hinterher?« fragte ich.
»Wir sind so gegen vier gegangen. Vor dem Trouw habenwir zu dritt noch auf einer Bank gesessen. Um wieder zu uns zu kommen.«
Mir fiel auf, daß Dennis in seinem Bericht das Mädchen Goscha kaum erwähnt hatte.
»Nicht lange«, erzählte er weiter. »Wir haben uns aufs Fahrrad gesetzt und sind auf einer der Nebenstraßen zur Weesperzijde gefahren. Der Blasiusstraat vielleicht. Über die Brücke zur Ceintuurbaan. An der Ecke vom Sarphatipark haben wir noch eine Weile gestanden und gequatscht.«
»Warum da?« fragte Mirjam.
»Ich wohn in der Govert Flinck. In dem Teil zwischen der Van der Helst und der Ferdinand Bol. Da wohn ich mit meinem Vater und meiner Schwester. Ich hab Tonio und Goscha gefragt, ob sie mit in mein Zimmer kommen, um noch ein bißchen zu chillen. Tonio wollte erst, und dann wieder nicht. Er hatte Jim versprochen, um vier zu Hause zu sein. Sie wollten sich vielleicht noch einen Film anschauen. Jim mit seiner ewigen Schlaflosigkeit … Tonio wollte ihm noch etwas Gesellschaft leisten. Zum Schluß ging nur Goscha mit. No big deal, sie ist fast auf der Stelle eingeschlafen.«
»Hast du Tonio wegfahren sehen?« fragte ich. »Er fuhr die Ceintuurbaan entlang, nehme ich an. Hatte er Probleme beim Fahren? Ist er geschlingert?«
»Ich hab nicht drauf geachtet«, sagte Dennis. »Aber wenn er schlingernd weggefahren wäre, dann wär mir das aufgefallen. Nein, jetzt, wo du fragst, er ist ganz normal in die Ceintuurbaan eingebogen.«
»Bist du schon mal von deinem Haus mit ihm nach De Baarsjes gefahren?«
»Aber oft.«
»Was war dann die normale Strecke?«
»Ceintuur, Van Baerle, Eerste Huygens und dann am Overtoom nach links. Und so weiter.«
»Tonio wurde Hobbemastraat/Ecke Stadhouderskade angefahren. Diese Kreuzung liegt nicht auf der Strecke.«
»Keine Ahnung, wie er da hinkam.«
»Könnte es sein, Dennis, daß er noch kurz im Paradiso vorbeischauen wollte … ob das Mädchen von der Fotosession da ist?«
»Um wieviel Uhr ist es passiert? Viertel vor fünf, nicht?«
»Zehn nach halb fünf.«
»Dann ist das Paradiso schon zu. Wenig Chance.«
»Und du, Dennis«, fragte Mirjam mit nassen Augen, »wie hast du von dem Unglück erfahren?«
»Am nächsten Tag. Ich saß im Park, als ich den Anruf bekam.« Dennis schüttelte lange den Kopf. »Ich konnt‘s einfach nicht glauben.«
15
Tonios Freunde erzählen uns, daß er in letzter Zeit »locker wurde« und immer kontaktfreudiger. Auch darin glich er mir also. Es bedeutet, daß Jahre der Verlegenheit, Unsicherheit und Einsamkeit vorangingen. Die Kehrseite des Stolzes, daß man in den Genen seines Sohnes steckt.
Als er sein Studium an der Amsterdamer Fotoakademie gerade begonnen hatte, durfte Tonio auf unsere Kosten in den Herbstferien nach Paris, wo er fotografieren wollte. Er war achtzehn. Ich sah ihn ganz allein durch Paris streifen, Fotos machend, sich aber nach Abenteuern sehnend. So hatte ich Anfang der siebziger Jahre in Paris rumgehangen, Museen und Bauwerke besuchend, ununterbrochen auf das Unerwartete hoffend.
Seine Lebensdaten besagen, daß er zu einer Generation gehörte, die, in Fortsetzung der Generation X und der Generation Nix, vielleicht noch auf einen geeigneten Namen wartet. Aber ich werde nie sagen können: »Tonio ist ein typischer Vertreter seiner Generation.« Dafür hat er von dem für seine Generation Typischen zu wenig zeigen können. Wenn er ein Versprechen war, so ist er jetzt ein verwesendes Versprechen.
Sehr gut möglich, daß ich das weitere Tun und Treiben seiner Generation verfluchen werde, weil er nicht mehr daran teilhaben durfte.
Nach seinem achtzehnten Lebensjahr war er in Budapest, in Paris, auf Ibiza, in Berlin. In verzweifelten Tagträumen denke ich mir
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