Tonio
richtig, daß wir ihm die Stoppeln haben abrasieren lassen?« fragte ich, hauptsächlich um das Thema der Aufbahrung abzuschließen. »Ich meine, es paßte so zu ihm.«
»Im Sarg hatte er einen ordentlichen Stoppelbart«, sagte Dennis sehr entschieden. »So wie sonst.«
»Vielleicht war es schwierig, ihn zu rasieren«, sagte Mirjam. »Wegen dieser Wunde … damit die nicht aufgeht.«
Ich schloß die Augen und sah die doppelte Tüpfellinie aus geronnenem Blut vom Hals über Kinn und Oberlippe – parallel mit fast mathematischer Präzision.
»Ich habe keine Wunde gesehen«, sagte Dennis. »Sein Gesicht war völlig heil.«
»Weggeschminkt natürlich«, sagte ich. »Erzähl mal, Dennis, wie war Tonio in der letzten Zeit?«
12
Dennis zufolge war Tonio vor allem in den letzten Monaten gut draufgewesen.
»Ich sah , wie er sich entwickelte. Als ich ihn kennenlernte, vor ungefähr fünf Jahren, war er noch ein molliger Teenie. In der letzten Zeit wurde er immer schlanker. Ein hübscher Junge, das fanden alle. Er hat sich weiterentwickelt. Tonio war einfach ein super Typ. Sein Teeniespeck schmolz dahin. Er entwickelte sich. Er fand immer leichter Freunde. Es machte echt Spaß, mit ihm in eine Kneipe oder in die Disco zu gehen. Er blieb überall stehen und redete. Leute kamen auch von sich aus auf ihn zu, einfach weil sie den Eindruck hatten: der Typ, da müssen wir hin, da passiert was. Vor allem wenn er fotografierte. Er machte überall Fotos.«
Dennis dachte kurz nach, als wäge er ab, ob er etwas erzählen solle oder nicht. »Er war glücklich.« Dennis nickte. »Tonio sagte zu mir, er fühle sich seit ein paar Wochen so glücklich.« Er nickte noch einmal, heftiger. »Und das merkte man ihm an.«
Ich wollte ihn bitten, seinen letzten Abend mit Tonio zu beschreiben, wußte aber nicht, ob Mirjam so einen Bericht verkraftete. Ich warf einen vorsichtigen Blick auf sie. Sie schaute Dennis an und lächelte zustimmend. Sie hörte gern, daß ihr Sohn glücklich gewesen war. Es drang noch nicht zu ihr durch, daß das den Schrecken nur noch größer machte.
»Dennis, wir haben von Jim gehört, daß du an dem Samstagabend mit Tonio weg warst«, begann ich. »Im Paradiso, nicht wahr?«
Dennis sah mich erstaunt an. »Paradiso? Nein, nein. Wir waren im Club Trouw. Das ist eine neue Disco in der Wibautstraat. Früher war da die Druckerei der Tageszeitung Trouw drin und der Volkskrant . Ich weiß das von meinem Vater, der macht das Layout.«
»Am Donnerstag vor Pfingsten hat Tonio mir erzählt, daßer am Samstag ins Paradiso gehen würde. Zu irgendeinem italienischen Abend, mit alten Hits von Eros Ramazzotti und so. Ein Mädchen hatte ihn eingeladen.«
»Doch nicht Goscha?«
»Ich kann mich nicht erinnern, daß er einen Namen genannt hat. Ich habe nur Polaroids von ihr gesehen. Sie hatte an dem Donnerstagnachmittag eine Fotosession mit Tonio. Hier, in unserem Haus.«
»Ach, die … ja, wie hieß die gleich wieder? Von diesem Fotoshooting, das wußte ich. Tonio hat in einer Tour von ihr geredet, und jetzt weiß ich ihren Namen nicht.« Dennis dachte nach und schüttelte den Kopf. »Dieser italienische Abend … war der nicht am Freitag? Da ist er nicht hin. Ich weiß nicht, warum. Ich hab den ganzen Freitagabend mit Tonio im Terzijde gehockt. In der Kerkstraat. Am Samstag hat er noch versucht, dieses Mädel zu erreichen, um sie zu fragen, ob sie mit ins Trouw kommt. Da war es schon spät … es hat nicht geklappt …«
»Du hast sie nie gesehen?« fragte Mirjam.
Dennis schüttelte den Kopf. »Tonio kannte sie auch erst ganz kurz, glaub ich. Er hat mich ständig um Rat gefragt. Wie er es anfangen soll mit ihr.« Er lächelte amüsiert. »Wißt ihr, was ich an Tonio so unheimlich mochte? Er konnte einstecken. Er hat sich Kritik genau angehört. Wenn man ihm erklärt hat, daß er irgendwas falsch anpackte, bei ‘nem Mädel oder so, dann hat er sich das zu Herzen genommen. Überhaupt nicht pikiert oder so. Er wollte daraus lernen. Er entwickelte sich.«
»Gut«, sagte ich, »Tonio war also nicht mit dem Mädchen von dem Fotoshooting im Paradiso und auch nicht im Trouw mit ihr. Sondern mit dir. Wie verlief der letzte Abend seines Lebens?«
»Wir hatten uns am späten Samstagnachmittag im Vondelpark verabredet«, begann Dennis. »Da war eine Fete im Vertigo, beim Filmmuseum. Uns hat es da von Anfang anüberhaupt nicht gefallen, also sind wir ganz schnell wieder weg. Noch ein paar Snacks reingeschaufelt, und dann sind wir
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