Tonio
alles, was er berichten konnte. Und ja, Tonio hatte versprochen, um vier Uhr zu Hause zu sein, damit Jim Gesellschaft hatte. Sie wollten sich eventuell noch gemeinsam einen Film ansehen …
Welche Rolle hatte das Fotomädchen in Tonios letzten Tagen gespielt? Diese Frage kehrte bis zum Verrücktwerden immer wieder.
Ungefähr zwei Jahre zuvor meinte ich sicher zu wissen, daß Tonio sich in Gedanken mit Mädchen herumschlug. Ichhatte ihm mit aller Macht eine feste Freundin gewünscht oder eine ganze Menge lockerer Freundinnen, Hauptsache, er war ab und zu glücklich. Jetzt schien ein solches Mädchen die Bildfläche zu betreten. Ich wußte nichts über ihre Beziehung, außer daß sie noch in den allerersten Anfängen stecken mußte, und dennoch spürte ich, sozusagen mit meinem ganzen Vaterherzen, daß etwas Besonderes zwischen den beiden im Gange gewesen war.
»Wir sind immer lösungsorientiert gewesen«, hatte Mirjam bereits wenige Tage nach dem Unglück ausgerufen. Es war fast zu einem Mantra für sie (und mich) geworden. »Jetzt ist ein Problem entstanden, für das es per definitionem keine Lösung gibt. Das jagt mir Angst ein. Vor uns liegt eine ganze Zukunft ohne Lösung.«
Vielleicht wollten wir deshalb Tonios letzte Tage und Stunden so minuziös rekonstruieren: Wir suchten nach einer Parallellösung. Indem wir alle Fakten nebeneinanderlegten, bis hin zum letzten Puzzleteil, schien sich Tonio zurückerobern zu lassen – wenn auch nicht lebend. Es würde vielleicht ein wenig Ruhe schenken, wenn keine Fragen mehr offen waren. Ein anderer Grund mochte sein, daß wir uns verpflichtet fühlten, die Geschichte seines kurzen Lebens abzurunden. Ich konnte sein fast zweiundzwanzigjähriges Dasein aus Fotos, Eindrücken und Erinnerungen von neuem zusammensetzen, nur die Schlußphase noch nicht.
7
»Du hast jetzt eine E-Mailadresse«, sagte ich zu Mirjam. »Du kannst nach ihrer Handynummer fragen. Gib deine Nummer an, dann hat sie die Wahl: angerufen werden oder dich anrufen.«
»Ich schlage vor … werd nicht gleich böse … daß wir erst mal herauszubekommen versuchen, wie tief es eigentlich ging. Noch eine Illusion weniger, das verkrafte ich jetztnicht. Ich will wissen, ob diese Fotosession nicht doch eine rein professionelle Angelegenheit von Tonio war. Und ich möchte hören, was genau an dem Samstagabend und in der Samstagnacht zwischen den beiden vorgefallen ist …«
»Also, was meinst du?«
»Jim glaubt, daß Tonio am Samstagabend mit Dennis unterwegs war … einem gemeinsamen Freund.«
»Kennen wir den?«
»Er war schon mal hier. Freundlicher Junge. Groß, jedenfalls im Vergleich zu Tonio. Ich ruf jetzt erst mal Dennis an. Es kann gut sein, daß Tonio mit ihm und dem Fotomädchen im Paradiso war. Wer weiß, vielleicht kann Dennis mehr über sie erzählen.«
Das Beste war, nichts zu forcieren, und erst mal von zu Hause aus nach einer Lösung zu suchen, auch wenn wir sie als Parallellösung bezeichneten – was nur ein Wort war. Wir beschlossen, die Freunde einzuladen, die Tonio in seinen letzten Tagen begegnet sein konnten. Jim war bereits hiergewesen. Das Paradisomädchen, falls wir es ausfindig machen konnten, wollten wir erst einladen, wenn die Fotos gefunden waren. Jim zufolge war Tonio an jenem letzten Abend »auf jeden Fall« mit Dennis ausgegangen. Dennis würde uns erzählen können, ob das Fotomädchen mit von der Partie war – und falls nicht, warum nicht.
Von Jim erhielten wir die E-Mailadressen von Tonios Freunden und Freundinnen und in einigen Fällen auch ihre Privatadresse und Handynummer. Die von Dennis und seiner Schwester waren ebenfalls dabei: Sie wohnten in der Govert Flinckstraat, in einem Haus zusammen mit ihrem Vater.
8
Was das Graben in Tonios letzter halber Woche bringen würde, blieb abzuwarten, doch wir entdeckten, daß die aktive Suche nach einer Methode, den Verlust zu verarbeiten, denSchmerz nur noch größer machte. Den Verlust passiv zu erleiden und uns so ergeben wie möglich von einem Tag zum nächsten zu schleppen schien vorläufig das Beste. Wir warteten auf Dennis‘ Besuch, und währenddessen beantwortete ich die Kondolenzpost. Mirjam kümmerte sich um die administrative Seite von Tonios Tod. Die Abmeldung vom Studium, die Kündigung seiner Abonnements, die Rechnungen. Sagen wir: den Abbau seiner Identität. Mit der Krankenkasse war die lange Operation zu regeln, auch wenn sie nicht zu seiner Wiederherstellung geführt hatte. Wir bekamen einen Teil des
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