Tonio
erotische Abenteuer für Tonio aus … innige Umarmungen mit Mädchen, ohne Vorsicht vollzogen, weshalb sich nicht restlos ausschließen läßt, daß mit Hilfe von Fernsehsendungen à la Spoorloos (»Vermißt«) irgendwann einmal ein Sohn oder eine Tochter von ihm auftaucht. Wir bewahren seine DNA auf. (Neulich kam Mirjam plötzlich zu mir, in Tränen, Tonios Haarbürste in der Hand: Im einfallenden Sonnenlicht bewegten sich die Haare, die noch nach allen Seiten hin herausstanden.)
16
Nach einer Pause erzählte Dennis, daß er an diesem Nachmittag, bevor er zu uns kam, in De Baarsjes war, bei Jim. Gemeinsam hatten sie den schlimmsten Mist von Tonios Schreibtisch entfernt, vielleicht im Hinblick auf einen Besuch der Hinterbliebenen. »Nein, echt, das war vielleicht ein Müll … allein schon diese klebrigen Coladosen. Dutzende.«
Ich dachte mit Bedauern daran, daß der Tisch vor der Aufräumaktion hätte fotografiert werden müssen: Es hätte ein ganz anderes Scan von Tonios Gehirn geliefert als das, das sie am Pfingstsonntag im AMC gemacht hatten.
Dennis und Jim hatten auch Tonios Computerdateien durchgesehen. »Der Typ hat so irre viel fotografiert … da sind solche guten Fotos darunter … das darf einfach nicht verlorengehen«, sagte Dennis. »Er darf als Fotograf nicht einfach so vergessen werden.«
Dennis hatte mit Jim abgesprochen, daß sie in den nächsten zwei Wochen eine grobe Auswahl aus Tonios Fotos vornehmen würden, um uns die zum Absegnen vorzulegen. Wir sollten sagen, welche auf keinen Fall in Frage kämen, und mit den übrigen würden sie eine kleine Ausstellung organisieren. »Wir finden schon irgendeinen Raum«, sagte Dennis. »Einen kleinen Saal oder so. Vielleicht können wir ein Buch daraus machen. Mein Vater ist Layouter. Ja, ich meine, Tonio war so ein wahnsinnig guter Fotograf … mit den Sachen muß man einfach was machen.«
Mirjam und ich sahen uns gerührt an. Zwei Freunde, die beschlossen hatten, daß Tonio und seine Fotos nicht vergessen werden durften.
»Wenn dabei Kosten anfallen«, sagte ich, »dann übernehmen wir die gern.«
»Vielleicht haben sie im Jüdisch-Historischen einen kleinen Ausstellungssaal frei«, sagte Mirjam, die früher in diesem Museum Führungen gemacht hatte. »Ich frag mal nach.«
Natürlich waren wir selbst neugierig, was alles in Tonios Dateien zu finden war (nicht nur Fotos), aber wir versprachen, Tonios Computer in der Nepveustraat stehenzulassen, bis Dennis und Jim ihre Auswahl getroffen hatten.
»Habt ihr in seinem Computer auch Fotos von diesem Paradisomädchen gefunden?« fragte ich Dennis. »Tonio hat sie unter anderem hier fotografiert« – ich deutete auf die Vitrine mit Tonios Steinsammlung – »und in seinem alten Zimmer oben, das du ja kennst.«
Dennis schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, immer dasselbe Mädel, hier in eurem Haus … das wäre mir aufgefallen. Komisch übrigens. Als wir heute nachmittag Tonios Zimmer aufgeräumt haben, sind wir auf keine einzige Kamera gestoßen.«
Bevor er ging, mußte ich Dennis noch versprechen, die Ausstellung mit einer Rede zu eröffnen.
17
Gestern abend sah ich beim Zubettgehen auf einmal ganz deutlich Tonios Leichnam vor mir, wie er gewaschen, bekleidet und aufgebahrt wurde. Wildfremde Hände, zu denen kein deutliches Gesicht gehörte, bewegten seine willenlosen Gliedmaßen. Andere, ebenso unbekannte Hände wuschen seinen Unterleib, äußerst zielgerichtet und professionell.
Durch dieses Bild hindurch sah ich Tonio als dreizehn Monate altes Baby am Rand einer französischen Landstraße. Der Schatten einer Platane fiel auf ihn, samt grellen Lichtflecken, wo sich die Sonne durch die Baumkrone gebohrt hatte. Es war jener Mittag im Sommer ‘89, als ich ihn vorn auf dem Fahrrad zum Schloß Biron mitgenommen hatte. Seine Pamper war voll und schwer, aber er gab keinen Mucks von sich. Meine eigene Nase meldete mir, daß das Kind frische Windeln brauchte. Und so hatte ich ihn an den Straßenrand gelegt. Kein lebendes Wesen weit und breit, das daran Anstoß hätte nehmen können.
Ich ließ mir Zeit. Nach einem halben Tag im Kindersitz gab es einiges an ihm zu säubern. Er lag ganz zufrieden im verdorrten Gras, melodiös murmelnd, mit seinen rosa, auf der Rückseite bereits leicht mokkafarbenen Händchen um sich greifend. Ich fand eine rostige Öltonne, fliegenumschwärmt, in der ich das Windelpaket deponierte. In einem kleinen, noch nicht ganz ausgetrockneten Bach wusch ich mir die
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